Rechtspopulismus:Wir erwarten zu viel von der Demokratie

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Oder zumindest das Falsche. Anders lässt sich nicht erklären, warum so viele von ihr enttäuscht sind. Eine Verteidigung.

Gastbeitrag von André Brodocz

Eine repräsentative Studie der Bertelsmann-Stiftung hat gerade gezeigt: Die meisten Menschen, die für Populismus anfällig sind, sind "enttäuschte Demokraten" und "keine Feinde der Demokratie". Das klingt nur zunächst beruhigend. Denn mit der Enttäuschung über Politiker und die sie kontrollierenden Medien kann auch der Zweifel am Funktionieren unserer Staatsform wachsen. Noch Ende 2016 waren bei einer Umfrage von Infratest-dimap für den ARD-Deutschland-Trend beispielsweise 80 Prozent der AfD-Anhänger mit ihr nur wenig oder gar nicht zufrieden. Bei einigen geht das so weit, dass sie sich sogar generell von der Demokratie als Staatsform abzuwenden scheinen. Aus den Enttäuschten können Verächter der Demokratie erwachsen.

Die Verteidiger der Demokratie können dies meist nicht verstehen. Auch sie sind deshalb enttäuscht - von den Enttäuschten. Und suchen deshalb Antworten auf die Frage, wer die AfD wählt. Oder Donald Trump. Und warum. An ihrem Einkommen oder ihrer Bildung, ihrem Alter oder ihrem Geschlecht - so viel hat man inzwischen erkannt - lassen sich die Gründe nicht hinreichend festmachen. Inzwischen scheint man sich deshalb - zumindest in Kommentaren und Talkshows - darauf geeinigt zu haben, dass die Enttäuschten vor allem eines gemeinsam haben: Angst. Mit dem Zusatz allerdings, dass auch alle Angst es nicht rechtfertige, die Demokratie den Populisten zu opfern.

Studie
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Von Pia Ratzesberger (Text) und Christian Endt (Grafik)

Für die Verächter wie für die Verteidiger der Demokratie bleibt nach solchen Debatten alles beim Alten: nämlich bei ihren Enttäuschungen. Weder Frauke Petry lässt sich von Thomas Oppermann noch Peter Altmaier von Alexander Gauland überraschen. Gleiches gilt für die Zuschauer. So entsteht ein Kreislauf des Argwohns, der alle Beteiligten langweilt, aber auch beruhigt. Denn jeder kann seine eigenen Enttäuschungen erwarten.

Das alles führt zu einer sehr essentiellen Frage: Was erwarten wir eigentlich von der Demokratie?

Enttäuschungen setzen schließlich Erwartungen voraus. Wer von der Demokratie enttäuscht ist, muss etwas von ihr erwartet haben. Und wer von den Enttäuschten enttäuscht ist, hat ebenfalls Erwartungen an die Demokratie, zu denen das Verhalten der Enttäuschten offenbar nicht passt. Was aber ist es genau, das wir erwarten? Von demokratisch regierten Bürgerinnen und Bürgern, vom Volk also? Und von den Regierenden und dem Regieren?

Die Idee der Mehrheit ist eine Fiktion - sie unterstellt nämlich, dass das Volk über einen gemeinsamen Willen verfügt

Demokratie ist die "Herrschaft des Volkes" - darüber sind wir uns alle einig. Von den demokratisch regierten Bürgerinnen und Bürgern erwarten wir deshalb, dass sie ein Volk sind. Demokratien wecken diese Erwartung, indem sie ihre Legitimität aus einem allgemeinen Willen des Volkes ableiten. Sie ermitteln diesen Willen mit Hilfe von Wahlen oder Abstimmungen durch die notwendige Zustimmung der Mehrzahl ihrer Bürgerinnen und Bürger. Die gleiche Teilhabe aller an der Ermittlung eines gemeinsamen Willens ist dabei entscheidend. Nur so kann dieser gemeinsame Wille mit dem gleichgesetzt werden, was eine Mehrheit will.

Wie der Ideenhistoriker Pierre Rosanvallon gezeigt hat, ist diese Orientierung an der Idee der Mehrheit jedoch eine Fiktion. Denn diese Idee unterstellt, dass das Volk über einen gemeinsamen Willen verfügt und wie ein singuläres Phänomen immer schon in der Welt ist. Dieses Volk kommt jedoch erst durch die Wahl in die Welt. Es existiert in dieser Form sogar nur für den Moment der Wahl. Rosanvallon nennt diese Form des Volkes deshalb auch das "Wahl-Volk".

Zwischen den Wahlen erscheint das Volk dagegen in einer ganz anderen Form. Als "Sozial-Volk" besteht es aus jenen Minderheiten, deren spezifische Situationen, Schicksale und Geschichten keine Beachtung finden. Im Unterschied zum "Wahl-Volk" tritt das "Sozial-Volk" nicht als Einheit in Erscheinung, sondern durch verschiedene Minderheiten. Statt seinen Willen wie das "Wahl-Volk" als eine arithmetisch hergestellte Mehrheit zum Ausdruck zu bringen, beanspruchen die verschiedenen Minderheiten jeweils für sich, "das Volk" zu sein. Sehen sie dann ihre Partikularinteressen nicht erfüllt, werfen sie konsequenterweise der Regierung vor, "nicht im Sinne des Volkes" zu handeln.

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Wer deshalb beim Verteidigen der Demokratie an der Erwartung festhält, auch jenseits der Wahl als Volk eine Einheit zu sein, bekräftigt Minderheiten weiterhin darin, dass ihre Enttäuschungen nichts anderes sind als die Enttäuschungen des Volkes.

Als "Herrschaft des Volks" weckt die Demokratie aber nicht nur spezifische Erwartungen an die Regierten, sondern natürlich auch an die regierenden Politiker und Parteien. Von einer Demokratie erwarten wir, dass die Bürgerinnen und Bürger selbst entscheiden, wer sie regiert. Dafür geben wir in regelmäßig wiederkehrenden Abständen unsere Stimme den von uns ausgewählten Volksvertretern. Diese Stimmabgabe verbürgt, dass sich das Volk selbst regiert. Erst so befolgt es ausschließlich Gesetze, die am Ende aus einer Entscheidungskette hervorgehen, an deren Anfang das Volk selbst steht. Dass die Regierenden dem Volk eine Stimme geben sollen, erwarten die enttäuschten Verächter schließlich genauso wie die Verteidiger der Demokratie.

Doch auch diese Erwartungen an die Regierenden stehen mit unseren Erfahrungen als Bürgerinnen und Bürger in der Praxis nur selten im Einklang. So hat der amerikanische Politikwissenschaftler Jeffrey Edward Green in den vergangenen Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger ihre politischen Erfahrungen überwiegend als Zuschauer machen - und zwar nahezu tagtäglich und damit deutlich häufiger als bei den nur alle paar Jahre wiederkehrenden Momenten ihrer Stimmabgabe.

Beim Zuschauen machen viele von uns mit den sie regierenden Politikern allerdings ganz andere Erfahrungen als beim Abgeben unserer Stimme am Wahltag. Beim Zuschauen geht es nicht um die Einsicht in entscheidungsrelevante Fakten, Informationen und Wissensbestände, wie sie in Bundestagsdebatten, bei Parteitagsreden, in verabredeten Interviews oder auch bei den inszenierten "home stories" dargeboten werden. Vielmehr geht es darum, einen Blick auf die Regierenden in Situationen zu bekommen, die sie selbst nicht kontrollieren können, auf die sie spontan reagieren müssen und so Einblicke in ihre "wahre" Persönlichkeit zulassen.

Die Anhänger Donald Trumps haben dies geradezu idealtypisch vorgeführt. Dass seine Behauptungen über Mexikaner und Muslime, über Hillary Clinton und Barack Obama nachweislich auf falschen Fakten beruhten, war ihnen keine Information, um an seiner Regierungsfähigkeit zu zweifeln. Vielmehr hat er ihnen gerade damit bewiesen, dass er sich auch in der Öffentlichkeit nicht zu sagen scheut, was er "wirklich" denkt.

Wahrhaft erscheint nur noch, wer vor der Provokation nicht zurückschreckt

Genau diese Erwartungen an ihr Handeln und Auftreten jenseits der Wahl werden von den Regierenden aber häufig nicht erfüllt. Wer Politik vor allem mit Zahlen, Daten, Fakten und Experten erklärt, verkennt dabei, dass die Bürgerinnen und Bürger auf diese Weise Erfahrungen machen, die im Widerspruch zu ihren Erwartungen als Zuschauer stehen: So sagen sie ihnen nicht, was sie "wirklich" denken und wofür sie "wirklich" stehen.

Auf fast schon tragische Weise enttäuschen deshalb die regierenden Politiker und Parteien viele Bürgerinnen und Bürger als Zuschauer, indem sie versuchen, deren Erwartungen als stimmabgebende Wähler zu genügen. "Wahrhaft" erscheinen den Enttäuschten dann nur noch diejenigen, die vor der Provokation nicht zurückschrecken und sich "mutig" der öffentlichen Empörung entgegenstellen.

Bleibt noch das Regieren. Auch damit werden in der Demokratie spezifische Erwartungen verbunden. Demokratisches Regieren soll zum Wohle des Volkes geschehen. Auch hier kommt der gleichen Teilhabe aller am politischen Prozess wieder eine zentrale Funktion zu. Denn sie ermöglicht, dass sich alle Bürgerinnen und Bürger auf die politische Entscheidung verständigen können, die für das Volk jeweils am besten ist - sei es, dass sie in diesem Prozess selbst ihre Stimme erheben oder sich dabei durch ihre Repräsentanten vertreten lassen. Demokratisches Regieren heißt deshalb: politische Entscheidungen treffen, die sich auf einen breiten Konsens unter uns Bürgerinnen und Bürger stützen. Wer demokratisch regiert, muss sich um die Herstellung dieses Konsenses bemühen.

Doch diese Art von Konsens bleibt unerreichbar. Das zeigt bereits seit Jahrzehnten die an der University of Westminster lehrende Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe. Nach Mouffe steht unsere Erwartung an demokratisches Regieren durch Konsense im Widerspruch zu dem, was gerade das Politische an politischen Entscheidungen ausmacht: das notwendige Entscheiden von unentscheidbaren, also gerade nicht konsensfähigen Fragen. Beispiele wären die Notwendigkeit von Zuwanderung oder Atomkraft, von Mindestlohn oder Wehrpflicht. Alle Versuche, demokratisch im Sinne des Konsenses zu regieren, bringen in der politischen Praxis unvermeidlich Streit und Konflikte zu Tage.

Statt des erwarteten Konsenses wird dann jedoch die Fähigkeit zum Konsens bei jenen in Frage gestellt, die sich den "alternativlosen" Ergebnissen gemeinsamer Verständigung beharrlich widersetzen. Die vom "vernünftigen" Konsens abweichenden Meinungen werden häufig noch als "unbelehrbar" verurteilt und können damit guten Gewissens von der gemeinsamen Verständigung ausgeschlossen werden.

Es sind ausgerechnet unsere Erwartungen an die Demokratie, die zu Enttäuschungen führen

So können die Verteidiger der Demokratie weiterhin an ihrer Erwartung an ein demokratisches Regieren im Konsens festhalten. Damit bestärken sie aber zugleich die Verächter der Demokratie ebenfalls an dieser Erwartung festzuhalten, sich dann weiterhin ausgeschlossen zu fühlen - und weiter enttäuscht zu werden.

Es sind also ausgerechnet unsere Erwartungen an die Demokratie, die die Enttäuschungen auf Seiten der Verächter forcieren. Trotzdem schauen wir, die "große Mehrheit", zur Verteidigung der Demokratie nur auf die Enttäuschten: zuerst auf ihre Angst, dann auf ihr Alter, ihr Geschlecht, ihr Einkommen, ihren Schulabschluss und nicht zuletzt auf ihre Unbelehrbarkeit. Und wir übersehen, dass unsere Erwartungen an die Demokratie überhaupt erst die Enttäuschungen der Verächter ermöglichen.

Wenn wir aber an unseren Erwartungen an die Demokratie weiterhin festhalten, vergeben wir die Chance, aus unseren Enttäuschungen zu lernen. Dafür müssen wir zuerst einmal unsere Erwartungen an die Demokratie in Frage stellen - etwa dass wir als Volk nur als Einheit existieren, dass die regierenden Politiker uns nur eine Stimme geben und dass demokratisches Regieren sich nur durch die Herstellung einer breiten Zustimmung auszeichnet. Denn diese Erwartungen werden der Komplexität demokratischer Legitimität nicht gerecht.

Wir müssen vielmehr darüber nachdenken, mit welchen Verfahren und Institutionen Minderheiten ihre Missachtung legitimerweise beklagen können, ohne dafür "das Volk" in Anspruch nehmen zu müssen. Wir müssen überlegen, wie das Zuschauen als am weitesten verbreite Art der Erfahrung mit den regierenden Politikern institutionell so geordnet werden kann, dass sie nicht allein den Provokateuren überlassen werden. Und wir müssen uns Gedanken machen, wie unser Wahlrecht, aber auch die Verflechtung von Bundes- und Landespolitik gestaltet sein müssen, dass uns Streit und Konflikte nicht nur als Hindernisse auf dem Weg zu einer von allen geteilten Entscheidung erscheinen, sondern genauso wie Verständigung und Kompromisse als eine weitere legitime Form des Regierens anerkannt werden können. Es wird Zeit damit anzufangen. Denn die Verteidigung der Demokratie in Zeiten der Enttäuschung beginnt bei uns.

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Von Jakob Biazza

André Brodocz ist Professor für Politische Theorie an der Universität Erfurt.

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