Neue Forschungen zu Stalin und Shoah:Ist der Holocaust nicht mehr beispiellos?

Eine neue Generation von Historikern beleuchtet den Massenmord unter Hitler im Kontext mit den exorbitanten Verbrechen Stalins. Der Vorwurf an diese Wissenschaftler, sie ebneten den Holocaust ein, ist verfehlt. Vielmehr sorgen sie für ein besseres Verständnis der vielfach verflochtenen Geschichte der Gewalt im 20. Jahrhundert.

Michael Wildt

Der Horizont der Holocaustforschung hat sich verändert. Das ist öffentlich zu erkennen an der großen Resonanz, die Timothy Snyders Buch "Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin" (2012) und Jörg Baberowskis Studie "Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt" (2012) gefunden haben.

Bau des Weißmeerkanals in der UdSSR zwischen 1933 und 1935

Tod durch Arbeit in der Sowjetunion: Zwangsarbeiter beim Bau des Weißmeerkanals (auch Weißmeer-Ostsee-Kanal genannt) zwischen dem Weißen Meer und dem damaligen Leningrad. Nach Schätzungen kamen bei den Bauarbeiten in der zwanzigmonatigen Bauzeit zwischen 1933 und 1935 etwa 200.000 Menschen (also etwa 10.000 pro Monat) um. Unterkühlung und Unterernährung seien die häufigsten Todesursachen gewesen.

(Foto: SCHERL)

Mitte der sechziger Jahre konnte ein Doyen der damaligen NS-Forschung, Karl-Dietrich Bracher, sein Grundlagenwerk zum Nationalsozialismus noch "Die deutsche Diktatur" nennen. Brachers Blick war gebannt auf das Schicksal der eigenen Nation; die Ermordung der europäischen Juden nahm in dem fast sechshundert Seiten dicken Band nur zwölf Seiten ein.

Seitdem jedoch in den achtziger Jahren zunehmend der Holocaust als das zentrale Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes wahrgenommen wurde, rückte mehr und mehr der europäische Schauplatz in den Mittelpunkt. Raul Hilbergs fulminantes Buch über den europäischen Judenmord (1961), das erst zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen in den USA ins Deutsche übersetzt wurde, zeigte erstmals die Dimension der Massenverbrechen. Und doch dauerte es bis zur historischen Zäsur von 1989, dass sich mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen auch deren Archive öffneten und eine freie Forschung möglich wurde. Nun endlich wurde Osteuropa als das zentrale Feld der nationalsozialistischen Massenverbrechen begriffen.

Zugleich waren die "bloodlands", jene Region, die sich von Polen über das Baltikum, die Ukraine und Weißrussland bis nach Westrussland erstreckt, ebenso der Schauplatz millionenfacher Morde, die das stalinistische Regime begangen hat.

Schon der sowjetische Bürgerkrieg, der von antisemitischen Pogromen und Hungerkatastrophen begleitet war, kostete Hunderttausende das Leben. Millionen Menschen flohen, wurden deportiert oder vertrieben. Die Zwangskollektivierung führte Anfang der dreißiger Jahre in der Ukraine, Kasachstan, im Nordkaukasus und anderen Gebieten zu einer ungeheuren Hungersnot, in der nach heutigen Schätzungen insgesamt etwa sechs Millionen starben, mehr als drei Millionen allein in der Ukraine.

Hungertod im deutschen Gewahrsam

Im "Großen Terror" der Jahre 1937/38 wurden über 700.000 Menschen ermordet und wiederum Millionen deportiert und in den Zwangsarbeitslagern des Gulag interniert.

Als die Wehrmacht im Juni 1941 in die Sowjetunion einmarschierte, war dies keineswegs der Beginn der Gewalt. Dennoch übertraf die nationalsozialistische Vernichtungspolitik alles bisher Dagewesene. Schon in den Planungen kalkulierte die NS-Führung mit dem Tod von Millionen Menschen. "Der Krieg ist nur weiterzuführen", hielt eine Runde von Staatssekretären im Mai 1941 fest, "wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr aus Russland ernährt wird. Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird."

Von den insgesamt drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in deutschem Gewahrsam starben bis Anfang 1942 zwei Millionen an Hunger, Krankheiten, Erschöpfung. Bis Ende des Jahres 1941 erschossen die Einsatzgruppen der SS und Polizei in den besetzten sowjetischen Gebieten über eine halbe Million Juden, zunächst die Männer in wehrfähigem Alter, dann auch Frauen, Kinder, Greise. Ebenso fielen Roma und psychiatrisch Kranke den Mordkommandos zum Opfer.

Massenmord "wissenschaftlich" vorausgedacht

Indem die Holocaustforschung Osteuropa als zentralen Ort der Massenmorde genauer in den Blick nimmt, verändern sich die bislang eindeutigen Zuordnungen. Zwar war die jüdische Bevölkerung zweifellos das Ziel eines systematischen Massenmords, aber auch Roma, Polen, Ukrainer, Weißrussen, Litauer und andere fielen der Vernichtungspolitik zum Opfer.

Der Mord an den sowjetischen Kriegsgefangenen war systematisch geplant und übertraf zahlenmäßig die gleichzeitige Erschießung von Juden um ein Mehrfaches. Im sogenannten "Generalplan Ost" wurde die Vertreibung, Versklavung und Ermordung von dreißig Millionen Menschen in Osteuropa "wissenschaftlich" vorausgedacht.

Gewaltraum Osteuropa

Obwohl außer Zweifel steht, dass die deutsche Vernichtungspolitik für die Massenmorde verantwortlich war, so war ihre Verwirklichung nicht ohne die Mittäterschaft der einheimischen Bevölkerung möglich. Beim Einmarsch der Deutschen rächten sich Litauer, Ukrainer an den Juden in ihren Orten für die Sowjetherrschaft, die in ihrem antisemitischen Blick auch eine jüdische gewesen sein sollte.

Die Entdeckung von Gräueltaten, die der sowjetische NKWD bei seinem Abzug in den Gefängnissen begangen hatte, führte zu mörderischen Pogromen an den Juden, die von SS-Einheiten tatkräftig unterstützt wurden.

Osteuropa stellt einen Gewaltraum dar, der schon vor dem deutschen Eroberungskrieg von mörderischer Gewalt gezeichnet war, in dem sich stalinistische und nationalsozialistische Gewaltpolitik kreuzten, durchdrangen, gegenseitig verstärkten.

Auch wenn die wissenschaftliche Debatte um das Buch von Timothy Snyder weitergehen wird, ob sich hinter der räumlichen Konstruktion der "bloodlands" nicht vielmehr eine Konstruktion von Geschichte verbirgt, wie jüngst Jürgen Zarusky in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte vermutet, hat Snyder doch eine Perspektive geöffnet. Die deutschen Gewalttaten in Osteuropa werden künftig nicht mehr isoliert, sondern nur mit Bezug auf die stalinistische Gewaltpolitik untersucht werden können.

Darum nimmt der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in der Forschung wie in der Erinnerungspolitik eine so zentrale Rolle ein, weil er unter Beweis stellt, wie rasch sich beide Regime darauf verständigten, Polen imperial aufzuteilen, als auch wie sehr sich die Gewalt gegen die polnische Bevölkerung ähnelte.

Zu komplex, um nebeneinander gehalten zu werden

Beide Seiten wollten Polen annektieren und ausbeuten, die polnische Elite vernichten und die Bevölkerung zur Zwangsarbeit einsetzen. Den Zehntausenden von Morden der SS-Einsatzgruppen 1939/40 entsprachen auf sowjetischer Seite die systematischen Erschießungen der polnischen Offiziere in Katyn und andernorts.

Der Historiker Dan Diner hat durchaus recht, wenn er in der Welt in seiner Kritik an Snyders Buch feststellt, dass Auschwitz darin nicht mehr den zentralen Stellenwert einnimmt. Doch irrt er, dass dies eine Einebnung der Gewalttaten bedeutet. Der systematische Massenmord an den europäischen Juden in den Vernichtungsstätten Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Belzec bleibt, wie Richard von Weizsäcker in seiner viel beachteten Rede 1985 festgehalten hat, "beispiellos". Aber eine Gegenüberstellung von nationalsozialistischem Genozid an den europäischen Juden auf der einen und Massengewalt im zwanzigsten Jahrhundert auf der anderen Seite, wie sie Dan Diner fordert, verstellt die Fragen, die eben jene Geschichte der Gewalt aufwirft.

Zum komplexen Geschehen, das Historiker heute untersuchen, gehört eine Vielzahl von Gewaltakteuren, Gewaltsituationen und Gewaltentscheidungen. Nicht alle folgten der SS-Logik, Juden umzubringen, weil sie Juden waren. Antisemitismus war ebenso ein Faktor wie allgemein die Ethnisierung des Politischen, imperiale Expansion und Herrschaftssicherung ebenso wie ökonomische Ausplünderung, utopische gesellschaftliche Neuordnungspläne wie die nackte Gier, den Besitz des Nachbarn zu rauben.

Alte Antworten untauglich für neue Fragen

Das gilt besonders für die "bloodlands". Gewalt wird durch die vergleichende Analyse nicht gleich, sondern klarer. Die Schoah gehört in diesen Gewaltzusammenhang des zwanzigsten Jahrhunderts wie die stalinistische Politik und die europäische koloniale Gewalt in Afrika, Asien und Lateinamerika - als vielfach verflochtene, aufeinander Bezug nehmende, aber eben keineswegs gleichzusetzende Geschichte.

Diese Gewaltgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zu erforschen - und zu erinnern -, wird in den kommenden Jahren eine europäische Aufgabe sein. In keinem Fall werden alte Antworten auf neue Fragen taugen.

Der Autor ist Professor für deutsche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts an der Humboldt-Universität in Berlin. Zuletzt erschien von ihm die Monografie "Geschichte des Nationalsozialismus" (Stuttgart 2008).

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