Interview am Morgen:"Die Parteien nehmen den Wählerwillen ernst"

Interview am Morgen: Einigung auf Teufel komm raus? Christian Lindner hat Jamaika eine Absage erteilt.

Einigung auf Teufel komm raus? Christian Lindner hat Jamaika eine Absage erteilt.

(Foto: AFP)

Man kann das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen auch als Chance sehen. Im "Interview am Morgen" spricht der Parteienforscher Niko Switek über das Demokratiedefizit von Koalitionen.

Von Jakob Biazza

SZ: Herr Switek, Jamaika ist gescheitert, weil Christian Lindner und seine FDP den möglichen Konsens, wie er sagte, "nicht mittragen konnte und wollte". Ist das - abgesehen von allem möglichen Kalkül, das man hinter seinem Schritt vermuten kann - demokratietheoretisch begründbar?

Niko Switek: Rein demokratietheoretisch ist das, was wir gerade erlebt haben, in Teilen vielleicht sogar zu begrüßen. Immerhin haben die Gespräche gezeigt, dass die Parteien eine Schmerzgrenze haben. Dass sie nicht, wie man ihnen allenthalben vorwirft, inhaltlich austauschbar sind. Das ist ein nicht zu unterschätzendes Signal an alle, die - wie beispielsweise die AfD - allzu leichtfertig von einer "politischen Elite" sprechen, die sich nur noch durch Konsenssauce und Beliebigkeit auszeichnet. Ich denke, die Sondierungen haben gezeigt: Die Parteien nehmen den Wählerwillen durchaus ernst. Sie gehen inhaltlich nicht leichtfertig damit um. Das ist ein essentielles Zeichen.

Weil Koalitionsverhandlungen immer ein Abweichen vom, vielleicht sogar eine Art Verrat am reinen Wählerwillen sind?

In einem abstrakten Demokratieverständnis: ja. Im echten Leben würde ich es etwas weniger drastisch formulieren. In unserem Verhältniswahlsystem muss der Wählerwille immer in eine Koalition übersetzt werden. Dabei geht, wie bei jeder Übersetzung, natürlich etwas verloren.

Interview am Morgen

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Ergeht ein Wählerauftrag an Parteien mit ihren Positionen? Oder doch an Koalitionen, die eben einen Kompromiss finden müssen? Ein aufgeklärter Wähler weiß schließlich, dass eine Partei nur selten alleine regieren wird.

Natürlich weiß der Wähler, dass er eine Koalition bekommen wird - und damit einen wie auch immer gearteten Kompromiss. Eben dieser Vorgang hat sich aber durchaus drastisch verändert: In der alten Lagerlogik war noch relativ klar, was man bekommt, wenn eine der großen Parteien stärkste Kraft wird. Die Grünen zum Beispiel koalieren auf Länderebene jetzt aber sowohl mit Linkspartei und SPD, als auch mit CDU und FDP. Man weiß nicht mehr so genau, was rauskommt, kann mit seiner Stimme also keine Koalition mehr herbeiwählen. Man kann nicht mal mehr klar sagen, welchen Kanzler man bekommen wird. Wer die Grünen wählt, nominiert selbst bei einem guten Ergebnis seiner Partei längst nicht mehr automatisch einen Kanzler Schulz. Das ist ein eindeutiger Mangel an Vorhersehbarkeit. Und damit ein Demokratiedefizit. Ein stückweit kann man da gerade schon vom "Wahlschein als Lotterieschein" sprechen.

Und im gleichen Atemzug bekommt das Hinterzimmer, in dem Inhalte und Grenzen verhandelt werden, immense Bedeutung - mit immensem Beigeschmack.

Im konkreten Fall würde ich dem widersprechen. Ich finde, die Parteien haben viel dafür getan, diesen Eindruck zu vermeiden. Die Sondierungsgespräche verliefen in weiten Teilen in einem Geist der Transparenz: Es wurden regelmäßig Sondierungspapiere veröffentlicht, aus denen der Wähler sehr deutliche Unterschiede zwischen den Teilnehmern erkennen konnte. Man weiß durch die sehr offen geführten Diskussionen zum Beispiel, dass die Grünen acht bis zehn Gigawattstunden an Kohlekraft einsparen wollten - Union und FDP nur drei bis fünf. Das ist doch eine sehr konkrete Erkenntnis.

Der kommunizierte Kompromiss lautete: sieben Gigawattstunden. Das wirkt nicht wie ein großer Wurf. Strebt die Demokratie in der aktuellen Parteienkonstellation noch etwas mehr zur Mitte - und damit auch zu eher mittelmäßigen Kompromissen, weit weg vom Wählerwillen?

Das ist tatsächlich eine der Fragen, die uns in den kommenden Jahren mit am meisten beschäftigen wird. Mit der AfD kommt eine neue, stark polarisierende Kraft ins Spiel. Und die übrigen Parteien rücken in der Mitte näher zusammen. Letzteres allerdings vielleicht auch nur gefühlt: Grüne und FDP sind in vielen Punkten inhaltlich immer noch Antipoden. Ihre Programme liegen weit auseinander, ihre Wähler haben klar unterschiedliche Werte. Auf einer emotionalen Ebene schrumpft ihre Distanz vielleicht. Mit Blick auf die AfD mag man denken: Immerhin sind Grüne und FDP noch demokratische Parteien. Wieso sollten die nicht zusammenarbeiten können? Dabei übersieht man schnell, wie problematisch es werden kann, wenn man sie programmatisch zusammenzwingt. Nur, weil es gerade keine andere Koalitionsoption gibt, heißt das eben noch nicht, dass man sich auf Teufel komm raus einigen muss - genau das haben wir ja jetzt gerade gesehen.

Hätte der Jamaika-Koalition demokratische Legitimation gefehlt?

So weit will ich nicht gehen. Man könnte ja umgekehrt auch sagen, dass es ein möglichst breites Bündnis braucht, um eine gerade sehr diverse Gesellschaft abzubilden. Wenn Jamaika funktioniert hätte, wären ja tatsächlich viele von den Positionen vertreten, die es in der Gesellschaft gibt. Ich würde aber eher dazu raten, das Scheitern als Chance zu begreifen. Sollte es tatsächlich Neuwahlen geben, hat der Wähler durch die intensiven Sondierungen doch viele Einblicke ins Innenleben der Parteien gewonnen.

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