US-Geheimdienste:Wie "Superforecaster" in die Zukunft blicken sollen

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Reingehen oder nicht? Das musste Präsident Obama vor dem Zugriff auf Osama bin Laden entscheiden. Szene aus dem Film "Zero Dark Thirty". (Foto: Jonathan Olley)
  • Am Forschungsinstitut IARPA arbeiten 16 US-Geheimdienste daran, Vorhersagen für Gefahren zu verbessern.
  • Der US-Psychologe Philip Tetlock will "böse Überraschungen" mit "Superforecastern" abwenden.
  • Die geschulten Prognostiker sollen ideologiefrei Vorhersagen treffen.
  • Seine Methode soll auch in zivilen Bereichen Anwendung finden.

Von Andrian Kreye

Für den Psychologieprofessor Philip Tetlock war die Jagd nach Osama bin Laden ein klassisches Beispiel für die Unfähigkeit der Geheimdienste. Als Barack Obama vor vier Jahren den Marschbefehl gab, wusste er, dass er eine der schwierigsten Entscheidungen seines Lebens fällte, nicht nur über Leben und Tod, sondern auch über den Verlauf der Geschichte und sein politisches Vermächtnis. Die Prognosen der Geheimdienste ergaben kein schlüssiges Bild - manche hielten einen Erfolg des Einsatzes für vierzig Prozent wahrscheinlich, manche für achtzig. Später sollte es einen Kinofilm über die Operation geben, "Zero Dark Thirty". Da beharrt die CIA-Agentin Maya darauf, sie sei hundertprozentig sicher. In Wahrheit kam Obama zu dem Schluss, die Chancen stünden "fifty fifty" und gab den Marschbefehl gegen den Rat seines Verteidigungsministers.

Für Philip Tetlock sind solche Ungenauigkeiten ein untragbares Risiko. Hundertprozentige Voraussagen seien wissenschaftlich ohnehin nicht haltbar. Es könne aber nicht sein, dass eine so weitreichende Entscheidung aufgrund unscharfer Berichte gefällt werden muss. Auch wenn Obama historisches Glück hatte, die Spezialeinheit Bin Laden in Pakistan fand und tötete: Die Arbeit der Geheimdienste muss sich ändern. Grundlegend.

Seit den Achtzigerjahren arbeitet Tetlock genau daran. Seit vier Jahren forscht er an der University of Pennsylvania im Auftrag des IARPA. Dies ist das Forschungsinstitut für Intelligence Advanced Research Projects Activity, das die NSA und die CIA 2006 gemeinsam mit vierzehn weiteren US-Geheimdiensten gründeten, um nach den Anschlägen vom 11. September 2001 neue Methoden der Geheimdienstarbeit zu entwickeln. Zum IARPA gehört ein Office for Anticipating Surprise, also eine Abteilung für die Vermeidung böser Überraschungen, ein Smart Collection Office, ein Büro für die kluge Sammlung von Daten, und ein Incisive Analysis Office, das Verfahren entwickelt, Daten, Erkenntnisse und Prognosen auszuwerten.

Psychologen halten sogenannte "Prognose-Turniere" ab - NSA und CIA sind interessiert

Am vergangenen Wochenende nun traf sich Philip Tetlock nördlich von San Francisco auf einem Weingut mit zwanzig Wissenschaftlern und Ingenieuren. Tetlock wollte die Ergebnisse seines "Good Judgement"-Projekts diskutieren, an dem er 24 Jahre lang gearbeitet hat.

Die Bedingungen zur Diskussion seiner Thesen sind ideal: Im Salon des viktorianischen Herrschaftshauses ist es kühl an diesen heißen Sommertagen. Mit Palmen im Garten, Veranda und vertäfelten Wänden verströmt das Haus koloniale Pracht. Es riecht nach den Rosenbeeten vor den Fenstern und nach den Edelhölzern der Möbel. John Brockman von der Edge-Stiftung hat eingeladen, dem besten Netzwerk für solche Debatten in den USA. Deswegen sind intellektuelle Schwergewichte angetreten - der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman zum Beispiel, der Psychologe Robert Axelrod, die Verhaltensforscherin Margaret Levi und Salar Kamangar, Vizechef von Google. Es ist nicht leicht, vor einer solchen Runde zu bestehen. Und vor allem Kahneman, der klügste von allen, ist skeptisch.

Philip Tetlock erzählt die Geschichte des Projekts. 1984 begann er erstmals, sogenannte Prognose-Turniere abzuhalten. Dabei bekommen ausgewählte Kandidaten Fragen nach dem Verlauf von Ereignissen gestellt. Kommt es in den USA zu einer Naturkatastrophe, die die Politik verändert? Wird Nordkorea Atomwaffen testen? Die Kandidaten durchleuchten die Fragen in Teams. Wichtig dabei ist: Sie sind keine Experten, sondern nur aufmerksame und kluge Bürger. Einer der allerbesten Prognostiker bislang war zum Beispiel Bill Flack, ein ehemaliger Beamter des amerikanischen Landwirtschaftsministeriums aus Nebraska.

Tetlocks erstes Ergebnis nach zwanzig Jahren: Langfristige Prognosen sind nicht möglich. Er war auch der Wissenschaftler, der herausfand, dass ein Affe, der Dart spielt, die gleiche Börsen-Trefferrate hat wie Experten von der Wallstreet. Aber im Sommer 2010 bekam er Besuch vom IARPA. Die Geheimdienst-Experten wollten ebenfalls Prognoseturniere ausrufen. Einziger Unterschied: Es sollten kurzfristige Voraussagen sein. Die Sieger standen bald fest, denn Tetlocks Prognostiker hatten die Konkurrenten mit Margen von über 60 Prozent geschlagen. Ohne Hilfe von Computern. Endlich hatte Philip Tetlock den Menschenschlag gefunden, den er so lange gesucht hatte - die "Superforecasters", die Superprognostiker.

In der Mittagspause ist es dann doch an der Zeit, die Frage zu stellen: Ist es für Wissenschaftler moralisch vertretbar, für ein Institut wie IARPA zu arbeiten? Schnell stellt sich heraus, dass man als europäischer Journalist der Einzige ist, der hier ein Problem sieht. Viele, die bei diesem Treffen in Kalifornien dabei sind, haben auch schon für DARPA gearbeitet, das berühmte Forschungsinstitut des US- Verteidigungsministeriums und Vorbild für das Institut der Geheimdienste.

IARPA sei nur der bekannteste Versuch, den Erfolg von DARPA zu imitieren, erzählt Peter Lee, der heute bei Microsoft die Forschungsabteilung leitet. DARPA wurde 1958 nach dem sowjetischen Sputnik-Start als ARPA gegründet, um den USA einen Vorsprung beim technischen Wettlauf der Supermächte zu verschaffen. Es hat mit seinen Erfolgen Wissenschaftsgeschichte geschrieben: Hier wurden die Raketen entwickelt, die später zum Mond flogen, die erste Version des Internets, GPS, die ersten Drohnen und die ersten selbstfahrenden Autos. Für amerikanische Wissenschaftler, so Peter Lee, war DARPA immer das Institut der unbegrenzten Möglichkeiten.

Auch Daniel Kahneman arbeitete für das Militär, allerdings in Israel. Nach dem Schock des Jom-Kippur-Krieges von 1973 baute er ein militärisches Prognose-Team auf. Deswegen interessiert ihn Tetlocks Arbeit auch so sehr. Das sei eine große Chance, wissenschaftliche Standards in die Geheimdienstarbeit einzuführen. Bis heute verfassten Geheimdienste ihre Berichte als Essays, sagt er. Also sehr ungenau.

Auf einem kalifornischen Weingut stellte Philip Tetlock von der University of Pennsylvania (links) seine Ergebnisse vor. Er arbeitet im Auftrag der Geheimdienste. (Foto: John Brockman/edge.org)

Kann die Wissenschaft dafür sorgen, dass sich die Vernunft durchsetzt?

Damit ist man schon beim Kernthema der "Superforecasters". Ihre wichtigste Eigenschaft ist nämlich die Fähigkeit, jedes nur erdenkliche Thema ohne ideologische oder emotionale Vorbelastung anzugehen. Wissenschaftlich eben, möglichst objektiv. Das aber ist in einer polarisierten Gesellschaft wie der amerikanischen, aber auch der europäischen, nicht einfach. Gerade in Amerika waren die Jahre nach dem 11. September 2001 eine Abfolge irrationaler Kraftakte: der Irakkrieg, die Gesellschaftskontrolle des Patriot Act, die Überwachungsgesellschaft im Blick der NSA.

Aber auch in Europa werden die größten Krisen bis in höchste Regierungskreise voller Emotionen und Ideologie diskutiert. Das reicht vom Konflikt in der Ukraine über den Zusammenbruch der Wirtschaft in Griechenland bis zur Schwäche der Europäischen Union. Es geht aber bei Prognosen nicht um politische oder ethische Einordnungen. Es geht erst einmal darum, die Faktenlage so präzise zu sortieren, dass sie einen Blick in die Zukunft und vor allem klare Entscheidungen ermöglicht.

Am Ende des Wochenendes auf dem kalifornischen Weingut erläutert Philip Tetlock noch ausführlich, warum es auch eine zivile Anwendung für die Superforecaster gibt, so wie einst für das Internet oder das selbstfahrende Auto. Auf lange Sicht könnten ihre Methoden und ihre Denkweise dem öffentlichen Diskurs den ideologischen Stachel nehmen, sagt er. Wenn sich die traditionellen Meinungsführer und Kommentatoren Prognose-Turnieren stellen müssten, dann wäre ihre vermeintliche Expertise und Analyse bald als Meinung entlarvt.

Auch Daniel Kahneman ist schließlich überzeugt. Wenn man das Superprognostizieren schulen könne, dann hätte es auch wissenschaftlichen Bestand, sagt er. Nur eine Hürde sieht er: Von der wissenschaftlichen bis zur politischen Relevanz sei es ein weiter Weg. Ein sehr weiter. Wirklich wirksam seien Tetlocks Methoden aber nur, wenn sie die Qualität politischer Entscheidungen steigern. Vielleicht ist das aber gar nicht so wichtig. Vielleicht ist es schon ein wichtiger Schritt, dass die Wissenschaft am Ideal eines postideologischen Zeitalters arbeitet, in dem sich die Vernunft durchsetzt.

© SZ vom 08.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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