Schon zum zweiten Mal in diesem Jahr wollen Forscher einen Durchbruch auf dem Gebiet der Supraleitung erreicht haben: Zwei Gruppen aus Südkorea und den USA berichten von einem Material, das supraleitend sein, also Strom ohne Widerstand leiten soll - und zwar alltagstauglich, also bei Raumtemperatur und üblichem Umgebungsdruck. Ein solches Material würde billige Energiespeicher ermöglichen, verlustfreien Stromtransport, effizientere Elektromotoren und mehr. "Es ist schwer, die Auswirkungen auf unser tägliches Leben zu überschätzen", schreibt Christoph Heil von der TU Graz per Mail.
Zwar gibt es bereits Supraleiter, doch diese müssen auf Temperaturen unter minus 140 Grad Celsius gekühlt oder extremem Druck ausgesetzt werden. Entsprechend spektakulär wäre die Entdeckung, die nun Forscher um Sukbae Lee vom Quantum Energy Research Centre in Seoul und Hyun-Tak Kim vom College of William & Mary in Virginia verkünden. Doch noch sind Fachkollegen äußerst skeptisch.
Wie gut war Oppenheimer als Physiker?:"Oppenheimer hätte einen Nobelpreis bekommen"
Der Architekt der Atombombe sei kein Einstein gewesen, aber ein brillanter Physiker, sagt der Historiker David C. Cassidy. Und Naivität könne man Robert Oppenheimer nicht vorwerfen.
Denn die zwei Arbeiten wurden bislang nicht von Fachkollegen begutachtet. Eine scheint selbst unter den Autoren umstritten zu sein: Hyun-Tak Kim sagte der Zeitschrift New Scientist, der zweite Artikel - bei dem er nicht als Autor auftaucht - sei ohne sein Einverständnis publiziert worden und fehlerhaft.
Erst im März dieses Jahres hatten Forscher um den Physiker Ranga Dias von der University of Rochester berichtet, ein Material entwickelt zu haben, das bei Raumtemperatur supraleitend wird, allerdings sei erhöhter Druck nötig. Dias jedoch wurden mehrfach Datenmanipulation und Plagiate vorgeworfen. Erst kürzlich wurde bekannt, dass eine 2021 in Physical Review Letters erschienene Arbeit von ihm wegen Zweifeln an den Daten zurückgezogen werden soll.
Der Stoff dürfte relativ leicht nachzubauen sein
Die neuen, noch erstaunlicheren Berichte stammen von Forschern, denen nichts vorgeworfen wird, die allerdings auch noch nicht aufgefallen sind. "Die Gruppe ist bislang nicht mit ähnlichen Arbeiten in Erscheinung getreten", sagt Bernhard Keimer, der am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart an Hochtemperatur-Supraleitern arbeitet. "Sie hat weder einen guten noch einen schlechten Ruf." Auf den ersten Blick allerdings wirkten die Arbeiten nicht sehr sorgfältig, sagt Keimer, so sei etwa die Präsentation der Daten teils widersprüchlich. Kann passieren, macht aber keinen guten Eindruck. Immerhin: "Sie haben sich bemüht, das Material vernünftig zu charakterisieren, das war bei den umstrittenen Arbeiten der Gruppe um Ranga Dias oft nicht der Fall", sagt Keimer. Der mutmaßlich so wundersame Stoff namens LK-99 ist eine Legierung aus Blei, Kupfer, Phosphor und Sauerstoff; das sind plausible Elemente: Die 1986 entdeckten ersten Supraleiter, die nicht in die Nähe des absoluten Nullpunkts gekühlt werden müssen - wofür es später einen Nobelpreis gab - bestanden ebenfalls hauptsächlich aus Kupfer und Sauerstoff. In dieser Klasse gibt es auch Materialien mit Blei- und Phosphor-Komponenten.
Um zu belegen, dass das Material bei Raumtemperatur supraleitend ist, hat das Team ein Video veröffentlicht, das zeigt, wie ein Stück LK-99 über einem Magneten schwebt. Supraleiter zeigen den sogenannten Meißner-Ochsenfeld-Effekt, das heißt, sie verdrängen ein äußeres Magnetfeld komplett aus ihrem Inneren und stoßen deshalb Magneten ab. Doch bewiesen ist damit nichts: Es gibt auch andere magnetische Effekte. Auch Frösche wurden schon zum Schweben gebracht, bekanntlich eher keine Supraleiter.
Auch die Daten sind für Experten nicht ausreichend. "Um zu belegen, dass man einen Supraleiter vorliegen hat, muss man zwei Eigenschaften beweisen", schreibt Christoph Heil: die widerstandsfreie Leitung des Stroms und die Verdrängung des Magnetfelds. Zu beidem werden zwar Messdaten präsentiert. Für Heil gibt es aber zu viele Unklarheiten bezüglich Messung, Messaufbau und Datenverarbeitung.
Die gute Nachricht ist: Das Material dürfte relativ leicht nachzubauen sein, die Sache lässt sich also klären. "Wir werden das jetzt anschauen und sehen, ob sich die Ergebnisse reproduzieren lassen", sagt Keimer. "Noch bin ich sehr skeptisch, aber in wenigen Wochen sollten wir mehr wissen."