Verhaltensbiologie:"Massive Invasion von Eisbären"

Lesezeit: 2 min

Symbolbild: Eisbären auf der Wrangelinsel im Arktischen Ozean (Foto: imago)
  • Seit zwei Monaten streifen mehr als 50 der Tiere um eine Siedlung im Norden Russlands herum und scheuen auch nicht die unmittelbare Nähe zu Menschen und deren Häusern. Lokale Behörden haben den Notstand ausgerufen.
  • Experten machen den Klimawandel verantwortlich, der den Lebensraum der Tiere zerstört.
  • Allerdings lockt auch der Müll der Menschen die hungrigen Tiere an.

Von Katrin Blawat

Aus Tausenden Kilometern Entfernung und vom Bildschirm aus betrachtet, wirken die Bilder beinahe surreal: Eisbären streifen wie verwilderte Hunde durch eine Siedlung, inspizieren dabei einen Kinderwagen in einem Hauseingang oder versammeln sich um ein Geländeauto, dessen Fahrer die Tiere mit lauten Rufen und hellem Licht zu vertreiben versucht. Vergeblich, wie Videoaufnahmen zeigen.

Für die 2000 bis 3000 Menschen in der Siedlung Beluschja Guba auf der russischen Nordpolarmeer-Insel Nowaja Semlja gehören die Besuche der Eisbären inzwischen fast zum Alltag. Seit zwei Monaten streifen mehr als 50 der Tiere um die Siedlung herum und scheuen auch nicht die unmittelbare Nähe zu Menschen und deren Häusern.

Plattform X

Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von X Corp. angereichert

Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von X Corp. angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.

Um die "Invasion", wie örtliche Behörden es nennen, in den Griff zu bekommen, wurde nun der Notstand ausgerufen. Die Zeitung The Sibirian Times zitiert einen Mitarbeiter der örtlichen Behörden damit, dass die Eisbären Menschen jagen würden und Bewohner Angst hätten, ihre Häuser zu verlassen. Auch hätten die Bären bereits Menschen angegriffen - wobei unklar bleibt, was darunter genau zu verstehen ist. Der Zeitung zufolge sagte der lokale Verwaltungschef, er lebe seit 1983 auf der Insel und habe noch nie eine derart "massive Invasion von Eisbären" erlebt wie derzeit.

Vermutlich ist es ein Zusammenspiel zweier Faktoren, das die Tiere ausgerechnet jetzt in die Siedlung lockt. Da wegen des Klimawandels die Fläche an Meereis stark geschrumpft ist, fehlt den Eisbären ihr natürliches Jagdgebiet. Vom Meereis aus erbeuten sie normalerweise Robben, ihre Hauptnahrungsquelle. Dass das Nahrungsangebot im Sommer nicht besonders üppig ausfällt, damit kommen die Bären notgedrungen zurecht. Doch umso dringender sind sie dann im Winter auf das Meereis und die Robbenjagd angewiesen.

Fehlt beides, wirken menschliche Siedlungen wie Beluschja Guba umso verlockender. Denn wo Menschen sind, gibt es auch Müll, und der stellt für Eisbären eine leicht zugängliche Nahrungsquelle dar. Besonders, wenn er wie auf Nowaja Semlja auf großen, offenbar ungesicherten Deponien gesammelt wird. Dort können sich die Eisbären frei bedienen. Angesichts eines solch reichhaltigen Nahrungsangebots tolerieren die Einzelgänger sogar die Anwesenheit von Artgenossen. "Es kann aber keine Rede davon sein, dass sie sich zusammenrotten für eine organisierte Jagd, wie man es etwa von Wölfen kennt, wenn sie Rehe oder Wildschweine jagen, sagt Roland Gramling vom WWF.

Ob und wie sich die Eisbären aus der Siedlung wieder vertreiben lassen, ist unklar. Da die Tiere auch in Russland unter strengem Schutz stehen, kommt Erschießen erst einmal nicht in Betracht. Und es würde wohl auch nicht viel bringen, wie die WWF-Bärenexpertin Sybille Klenzendorf meint: "Dann kämen halt neue Bären nach." Ebenso skeptisch ist sie gegenüber dem Versuch, die Tiere durch Lärm zu vertreiben, wie es derzeit versucht wird. "Das funktioniert bei einem einzelnen Bären, der vor der Tür steht. Aber bei so vielen Tieren, die sich zudem schon lange an die Nahrungsquellen im Dorf gewöhnt haben, bringt das nicht viel."

Als einzig wirksame Sofortmaßnahme kann sich Klenzendorf vorstellen, frei zugänglichen Müll zu verbrennen, die Deponien mit Elektrozäunen zu schützen und sicherzustellen, dass die Türen aller Gebäude eisbärensicher verschlossen bleiben. Die Tiere müssten lernen, dass sich der Ausflug ins Dorf nicht lohnt. Um die Eisbären langfristig aus Siedlungen fernzuhalten, hilft jedoch nur, den Klimawandel aufzuhalten.

© sz.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Insekten
:In 100 Jahren ausgestorben?

Die Insekten verschwinden nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt. Die Auswertung von mehr als 70 Einzelstudien kommt zu einer dramatischen Prognose.

Von Tina Baier

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: