Eigentlich ist die Laptewsee vor der Nordküste Sibiriens Anfang November längst zugefroren. Statt seichtem Wellengang zieren dann stattliche Eisdecken die Meeresoberfläche. Eigentlich entsteht hier Meereis, das bis nach Grönland driftet und so nicht zuletzt das europäische Klima beeinflusst. Eigentlich. Doch in diesem Jahr ist alles anders. Die Eisdecke bleibt bisher aus, die Laptewsee friert einfach nicht zu.
Auch der restliche Arktische Ozean ist in diesem Herbst außergewöhnlich spät dran mit der Eisbildung. Fast eine Million Quadratkilometer Eisfläche fehlen laut Daten des Nationalen Instituts für Polarforschung Japans insgesamt im Vergleich zu den letzten Oktobertagen des Jahres 2016, der Zeit des bisherigen Negativrekords. Zur Einordnung: Das ist eine Fläche von der Größe Ägyptens, beinahe drei Mal so groß wie Deutschland. Die ausbleibende Eisdecke hat nicht nur Folgen für Eisbären, Walrosse oder Seevögel, die auf das Eis angewiesen sind, sondern für den ganzen Planeten.
Wasser und Luft erwärmen die Meeresoberfläche von oben und von unten
Vor der sibirischen Küste ist die Lage besonders dramatisch, neben der Laptewsee sind auch die Karasee und die Ostsibirische See betroffen. Die Gegenden leiden noch unter den Folgen der Hitzewelle, die Sibirien in diesem Sommer heimgesucht hat. Im einige Hundert Kilometer von der Küste der Laptewsee entfernten Werchojansk zeigten die Thermometer am 20. Juni 38 Grad Celsius an - so heiß war es nie zuvor nördlich des Polarkreises. Frühjahr und Sommer waren in den nördlichen Breitengraden, besonders in Sibirien, insgesamt viel zu warm. Bereits der März war im Mittel um beinahe drei Grad wärmer als der langjährige Durchschnitt von 1951 bis 1980.
Das arktische Meereis schmolz im Sommer deshalb stark ab, wich teilweise so weit zurück wie noch nie seit Beginn der Messungen und legte so große Flächen des dunklen Meerwassers frei, das von der Sonne stark aufgewärmt wurde. Dazu kommt das ebenfalls erwärmte Flusswasser vom sibirischen Festland. Die oberen Wasserschichten des Arktischen Ozeans sind deshalb in diesem Herbst viel wärmer als sonst. Entsprechend länger dauert es, bis die Wasseroberfläche abkühlt und schließlich gefriert. Warme Sommer sind in Sibirien zwar durchaus keine Seltenheit - ohne den Klimawandel wäre die sibirische Hitzewelle aber so gut wie unmöglich gewesen, wie Berechnungen des Projekts World Weather Attribution (WWA) zeigen. Eine ähnliche Hitzewelle wäre vor 30 Jahren noch zwei Grad kühler ausgefallen, schreiben die Wissenschaftler des WWA.
Doch nicht nur die Lufttemperaturen sind zu warm. Weiter draußen, viele Hundert Kilometer von der Küste entfernt, verhindert ein weiterer Faktor die Eisbildung. In einigen Hundert Meter Meerestiefe strömt warmes, salzhaltiges Wasser aus dem Atlantik über die Barentssee in den Arktischen Ozean, es bleibt aber normalerweise tief unten im Meer und beeinflusst die Oberflächentemperaturen kaum. Seit einigen Jahren jedoch gelangt es immer öfter in höhere Schichten. Die Wasseroberfläche, die eigentlich gefrieren müsste, wird also von oben und unten erwärmt. Mark Serreze, Direktor des US-amerikanischen National Snow and Ice Data Center, beschreibt das als "double whammy" für die Eisbildung - "doppeltes Pech".
Das viel zu warme Wasser lähmt ausgerechnet die Eisküche der Arktis
Dass ausgerechnet die Laptewsee immer noch eisfrei ist, bereitet Heidi Kassens vom Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Geomar in Kiel große Sorgen. Die Meeresgeologin leitet seit 1993 regelmäßige Expeditionen in die arktischen Schelfmeere. Die Laptewsee gilt als "Eisküche" der Arktis, hier entsteht ungefähr ein Drittel des gesamten arktischen Meereises und driftet - langsam dicker werdend - in Richtung Nordpol. "Ich weiß wirklich nicht, wohin das in diesem Jahr noch führen soll", sagt Kassens. Vor 25 Jahren maßen sie und ihre Kollegen an der Wasseroberfläche zu dieser Jahreszeit noch Temperaturen um den Gefrierpunkt. "Heute herrschen dort Temperaturen über fünf Grad - und das in bis zu zwanzig Meter Tiefe", sagt Kassens.
Seit Jahrzehnten schwindet das arktische Eis; nicht nur die Fläche, auch die Dicke nimmt dramatisch ab. In der Arktis erwärmt sich die Erde am stärksten, die Folgen des menschengemachten Klimawandels sind am deutlichsten zu sehen. Innerhalb des nördlichen Polarkreises stehen nicht nur Ökosysteme vor dem Kollaps, das schmelzende arktische Meereis sorgt auch dafür, dass sich die Erde zusätzlich aufheizt. Schon Mitte dieses Jahrhunderts könnte die Arktis im Sommer eisfrei sein. Dieses Szenario würde den Planeten um zusätzliche 0,2 Grad erwärmen, wie Forscher des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) in einer Studie berechnet haben, die vor wenigen Tagen im Fachblatt Nature Communications erschienen ist.
Das liegt am berüchtigten Albedo-Rückkopplungseffekt: Weil das dunkle Ozeanwasser weit weniger Sonneneinstrahlung zurück ins All reflektiert als weiße Eisflächen, heizt sich die Erdoberfläche zusätzlich auf, wenn diese schmelzen. 0,2 Grad sind nicht wenig, wenn man sich vor Augen führt, dass die Menschheit die globale Erwärmung laut Pariser Abkommen auf "deutlich unter zwei Grad" begrenzen will. "Jedes Zehntelgrad Erwärmung zählt für unser Klima", sagt Ricarda Winkelmann vom PIK, Hauptautorin der Studie.