Sprachlich ist die Energiewende schonmal ein Exportschlager. Mittlerweile verwenden unzählige internationale Medien den Begriff und streiten, ob "The German Energiewende" nun ein Erfolg ist oder nicht. Zur Klimakonferenz in Bonn blicken besonders viele internationale Beobachter auf den Ausbau der erneuerbaren Energien. Auch in den Sondierungen für eine Jamaika-Koalition gehört die Energiepolitik zu den umstrittensten Themen.
Doch wie viel Strom wird überhaupt schon aus erneuerbaren Quellen erzeugt, und was bedeutet das für das Stromnetz und für Kunden? Das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) sammelt in der Datenbank "Energy Charts" Informationen zur Stromproduktion. Die Daten lassen einige Schlussfolgerungen zu:
Seit 2002 ist der Anteil der erneuerbaren Energien am Strommix fast stetig gestiegen. Bei ungefähr gleichbleibendem Strombedarf von etwa 500 Terawattstunden bedeutet das immer mehr Energie, die mit Windrädern, Photovoltaik, Biomasse und Wasserkraft erzeugt wird. Die Windenergie erlebte den größten Zuwachs. Wurden 2002 noch 15,8 Terawattstunden (TWh) Energie mit Windrädern erzeugt, waren es im vorherigen Jahr 77,2 Terawattstunden. 2017 erzeugten alle Windräder schon 80,4 TWh, damit ist schon im laufenden Jahr ein neuer Rekord erreicht, und die eingespeiste Windenergie übersteigt derzeit erstmals den Beitrag der Steinkohle zur Stromversorgung.
Ein etwas niedrigeres Niveau hat die Solarenergie mit derzeit 37,4 Terawattstunden Leistung. Allerdings war zu Beginn des Jahrtausends praktisch keine Photovoltaik in Deutschland installiert, der Beitrag der Sonne im Jahr 2002 mit 0,16 Terawattstunden marginal. Auch hier ist der Zuwachs also enorm.
Dem steht allerdings kein merklicher Rückgang bei der fossilen Energieerzeugung gegenüber, Deutschland produziert also mehr Strom als eigentlich benötigt wird. Der Beitrag der Braunkohle war 2016 (134,9 TWh) fast so hoch wie 2002 (140,5 TWh). Die etwas klimafreundlichere Stromerzeugung mit Steinkohle sank um ein Zehntel auf rund 100 TWh.
Über den Jahresverlauf liefern Windräder und Solaranlagen unterschiedlich viel Strom. Vor allem der Beitrag der Windenergie schwankt von Tag zu Tag erheblich. An einigen Tagen im Januar oder September 2017 trugen Windräder praktisch nichts zur Versorgung bei, stürmisches Wetter im Oktober ließ die Windstrom-Produktion auf einen Rekord ansteigen.
Das stellt Netzbetreiber vor große Herausforderungen. Da in etwa so viel Strom aus dem Netz heraus- wie hineinfließen muss, schalten die Betreiber vor allem fossile Kraftwerke zu oder ab, um Schwankungen aufzufangen. Strom zu speichern, ist bislang kaum technisch möglich oder unwirtschaftlich. Wenigstens ergänzen sich Wind- und Solarenergie ein wenig, da bei stürmischem Wetter selten die Sonne scheint und bei sonnigem Wetter umgekehrt wenig Wind weht. Erste Windanlagenbetreiber bieten Windkraft und Photovoltaik an einem Standort an, um möglichst gleichmäßig Strom einzuspeisen.
Unter den erneuerbaren Energien liefert Biomasse den gleichmäßigsten Beitrag. Da große Flächen für den Anbau von Energiepflanzen wie Raps oder Mais nötig sind, wird die Technologie allerdings kontrovers diskutiert.
Die Grafik zeigt den "Importsaldo" für Strom aus deutscher Sicht. Es ist meist negativ, an den meisten Tagen produziert Deutschland einen Überschuss Strom, der in Nachbarländer fließt. Kein europäisches Land exportiert mehr Strom als Deutschland. 2015 exportierte Deutschland 88,2 TWh Strom, mehr als die gesamte Leistung aus der Windkraft. Der größte Anteil geht in die Niederlande (24 TWh), gefolgt von Österreich (18 TWh) und der Schweiz (16 TWh). Die Niederlande leiteten den Strom teilweise bis nach Großbritannien weiter, die Schweiz einen Großteil nach Italien.
Dass Deutschland den Strom verscherbelt, stimmt laut Fraunhofer ISE nicht. 2015 hätten Stromexporte einen Außenhandelsbilanzüberschuss von 2,07 Milliarden Euro erlöst. An einigen Tagen kippt der Preis an der Strombörse aber ins Minus - wer überschüssigen Strom abnimmt, wird dann dafür bezahlt. Am 30. April war beispielsweise sehr viel Sonnen- und Windstrom im Netz, wer ihn abnahm, bekam 10,4 Cent pro Kilowattstunde geschenkt. Sturm Herwart führte Ende Oktober zu einem Preisverfall auf minus 9,2 Cent pro Kilowattstunde. Privatkunden hatten nichts davon, da die Börsenpreise nicht direkt weitergereicht werden.
Laut Zahlen des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) zahlen Privathaushalte mit 29,16 Cent pro Kilowattstunde heute etwa 50 Prozent mehr für Strom als 2006 (19,46 Cent). Die Industrie kommt mit 9,65 Cent pro Kilowattstunde deutlich günstiger weg. Vielen Unternehmen erlässt der Staat die EEG-Umlage in Höhe von derzeit 6,88 Cent/kWh, mit der die erneuerbaren Energien finanziell unterstützt werden. Hinzu kommen weitere finanzielle Vorteile für Großabnehmer.
Zuletzt sank der Strompreis für Industriekunden sogar um mehr als fünf Prozent. Für Verbraucher dürfte sich indes so schnell nichts ändern. Die hohen Preise resultierten aus Entscheidungen in der Vergangenheit und würden bis in die 2020er Jahre bestehen bleiben, schreibt die Unternehmensberatung McKinsey in ihrem aktuellen "Energiewende-Index". Mehr noch: "Ein weiterer Ausgabenanstieg ist unausweichlich." Dies liege daran, dass sich die Kosten verlagerten, von einer direkten Förderung der erneuerbaren Energien hin zum Ausbau und der Steuerung der Netze.
Mehr Jobs, aber hohe Kosten
Der australische Management-Professor John Mathews lobt die Energiewende in einer Analyse als "spektakulären Erfolg". Sie habe es beispielsweise ermöglicht, die Kernenergie schrittweise zurückzufahren. Das Energiesystem sei in kurzer Zeit reformiert worden, das habe Jobs geschaffen, Investitionen angezogen und die erneuerbaren Energien konkurrenzfähig gemacht.
Dennoch dürfte Deutschland sein Klimaziel verfehlen, die CO₂-Emissionen bis 2020 um 40 Prozent im Vergleich zu 1990 zu reduzieren. Mathews schreibt dies einer weiterhin sehr hohen Abhängigkeit von der Kohle zu. Dass die Emissionen nicht allzu stark gefallen seien, liege an den Kohlekraftwerken zur Stromerzeugung und daran, dass vor allem im Verkehr und in der Industrie noch sehr viele fossile Energieträger eingesetzt würden.
Um die ökologischen Ziele zu erreichen, sei es nötig, weitere Bereiche in die Energiewende einzubeziehen als nur die Stromproduktion, fordern auch die Analysten von McKinsey. So müsste der Verkehr mithilfe von Elektromobilität umweltfreundlicher werden, oder Gebäude verstärkt mit erneuerbaren Energien geheizt werden statt wie bislang mit fossilen Brennstoffen. Bei diesem "Sektorkopplung" genannten Vorhaben fehlten verbindliche und messbare Zielvorgaben, kritisieren die Experten. Auch müssten die Kosten des Projekts angemessen verteilt werden. Mit der bisherigen "Fahrt auf Sicht" werde Deutschland der Größe der anstehenden Aufgaben nicht gerecht. Die Folgen seien "unnötig hohe Kosten für Stromverbraucher und Steuerzahler auf der ökonomischen Seite und das Verfehlen unserer Klimaschutzziele auf der ökologischen".