Deutschland droht sein selbstgestecktes Klimaziel zu verfehlen - und das dramatischer als gedacht. Offiziell strebt die Bundesregierung noch an, die klimaschädlichen Emissionen bis 2020 um 40 Prozent unter den Wert von 1990 zu drücken. Doch die Lücke zum Ziel ist nach internen Berechnungen des Bundesumweltministeriums weit größer als angenommen: Ohne eine "Nachsteuerung" sei bis 2020 bestenfalls ein Minus von 32,5 Prozent zu erwarten; schlimmstenfalls würden die Emissionen nur um 31,7 Prozent sinken. "Eine Zielverfehlung in einer solchen Größenordnung wäre für die Klimaschutzpolitik Deutschlands ein erheblicher Rückschlag", heißt es in dem Papier, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt.
Noch vor einem Jahr war die Bundesregierung von einem Wert zwischen 37 und 40 Prozent ausgegangen. Helfen sollte dabei ein "Aktionsprogramm Klimaschutz 2020", das größere Anstrengungen in der Wirtschaft vorsah. Industrieunternehmen sollten lernen, sparsamer mit Energie umzugehen, Handwerker in Effizienz geschult und Hausbesitzer beim Dämmen unterstützt werden. Die Bahn verbraucht mehr Ökostrom, Kraftwerksbetreiber erhielten Hilfen zur Stilllegung von acht Braunkohleblöcken. Rund 100 Initiativen sollten dazu beitragen, das Ziel noch zu erreichen. Doch schon im Mai musste die Koalition nach Brüssel aktualisierte Daten melden - statt von 40 Prozent war im "Projektionsbericht" nur noch von maximal 35,7 Prozent die Rede. Selbst diese Zahl erweist sich nun als zu optimistisch.
Grund sind eine ganze Reihe Fehleinschätzungen der wirtschaftlichen Entwicklung. So ist zwar der Anteil erneuerbarer Energien in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Gleichzeitig produzierten die deutschen Kohlekraftwerke jedoch fleißig weiter Strom - nur eben für den Export. Die Folge: zehn Millionen Tonnen an Treibhausgas-Emission zusätzlich. "Wir erreichen die Klimaschutzziele eben nicht nur durch den Ausbau der Erneuerbaren", sagt Umweltstaatssekretär Jochen Flasbarth. "Wir müssen korrespondierend auch Kohlekraftwerke schrittweise vom Netz nehmen." Und weil sowohl Bevölkerung als auch Wirtschaft wachsen, steigt auch der Stromverbrauch - macht noch einmal zehn Millionen Tonnen. Je 12,5 Millionen Tonnen CO₂ bedeuten einen Prozentpunkt für das Klimaziel.
Nicht besser sieht es beim Verkehr aus. Ein stark gestiegener Dieselabsatz lasse darauf schließen, "dass die Lkw-Fahrleistungen höher als erwartet liegen", mutmaßen die Beamten des Umweltministeriums. Bei Kleinlastwagen und Autos sei der Verbrauch ebenfalls gestiegen - wohl auch der niedrigen Spritpreise wegen. Unterm Strich könnten die Verkehrsemissionen 2020 die jüngsten Schätzungen um acht Millionen Tonnen übersteigen. Weitere sechs Millionen Tonnen Abweichung lauern bei den Gebäuden, auch hier des Ölpreises wegen. Zuletzt war deshalb in deutschen Kellern mehr Öl und weniger Gas verfeuert worden. Setzt sich dieser Trend fort, dann sind die Gebäude-Klimaziele nicht mehr zu halten. Öl erzeugt mehr CO₂ als Gas. Kurzum: Statt der angestrebten 750 Millionen Tonnen CO₂ stieße Deutschland 2020 satte 844 Millionen Tonnen aus.
Merkel hat im Wahlkampf versprochen, das 40-Prozent-Ziel zu halten
Viele der Zahlen seien noch mit Unsicherheiten behaftet, räumt das Ministerium ein. "Dennoch lassen sie zumindest die Gefahr einer deutlich größeren Klimaschutzlücke in 2020 plausibel erscheinen." Das wieder mache es umso anspruchsvoller, das Ziel für 2030 zu erreichen: minus 55 Prozent gegenüber 1990. "Zudem wäre dies in Bezug auf das internationale Ansehen Deutschlands als Klimaschutzvorreiter verheerend", warnen die Beamten.
Damit wächst auch der Druck auf künftige Koalitionspartner. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte im Wahlkampf fest zugesagt, das Klimaziel noch zu erreichen. "Wir werden Wege finden, wie wir bis 2020 unser 40-Prozent-Ziel einhalten", sagte sie einer Zuschauerin in einer der Wahlarenen. "Das verspreche ich Ihnen." Faktisch würde dies bedeuten, dass Deutschland binnen drei Jahren noch einmal 90 Millionen Tonnen Kohlendioxid einsparen muss - so groß ist die Lücke. "Ohne einen Kohleausstieg wird das mit Blick auf 2020 nicht mehr zu holen sein", sagt Andreas Kuhlmann, Chef der Deutschen Energie-Agentur. Potenzial gebe es auch bei der Sanierung von Gebäuden. Seit Jahren diskutieren hier Bund und Länder über eine steuerliche Förderung, bisher stets ohne Erfolg.
Sollte es zu Koalitionsverhandlungen zwischen Union, FDP und Grünen kommen, dürften das schwierige Fragen werden. Während die Grünen eine rasche Abschaltung der 20 schmutzigsten Kohlekraftwerke fordern, um dann bis 2030 komplett aus der Kohleverstromung auszusteigen, lehnt die FDP derlei staatliche Markteingriffe rigoros ab.