Christiane Voigt hetzt aus dem Hangar über die Betonfläche. Die Sonne steht tief und blendet, Lärm dröhnt über das Rollfeld. Sie muss schreien, um die neue Lage mit der Crew zu klären. Eigentlich war alles auf die Minute getaktet. Jetzt muss es schneller gehen.
Start der Halo: 9.30 Uhr. Start der Falcon: 9.35 Uhr. So steht es im Plan. Für ihren letzten gemeinsamen Flug sollen die beiden Maschinen eine Zeit lang dicht beieinander fliegen - damit wollen die Forscher ihre Messungen vergleichen. Doch nun hat die Bundeswehr auf der geplanten Strecke einen Flug angemeldet. Die Falcon muss eine halbe Stunde eher starten, und Christiane Voigt muss umdisponieren.
Bluesky heißt die Mission. Als wissenschaftliche Leiterin am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) koordiniert Christiane Voigt in Oberpfaffenhofen bei München die Flüge der Falcon. Für die Halo ist ein Kollege vom Max-Planck-Institut für Chemie (MPI) zuständig. Auch die Goethe-Universität Frankfurt und die Forschungszentren Jülich und Karlsruhe sind beteiligt. Drei Wochen lang messen Forscher mit den beiden Messflugzeugen, wie sich die Erdatmosphäre unter den Corona-Kontaktbeschränkungen verändert hat. Seit Beginn der Krise ist der Flugverkehr über Europa um 80 bis 90 Prozent eingebrochen.
Der Corona-Frühling ermöglicht eine Reise zurück in Zeiten, als die Luft noch sauberer war
Für Christiane Voigt ist dieser virenbelastete Frühling eine besondere Chance. Er ermöglicht eine Reise zurück, in Zeiten, als die Menschen noch weniger Substanzen in die Atmosphäre pusteten. Im Blau des Himmels sucht Christiane Voigt neue Antworten auf eine Frage, die viele umtreibt: Wie stark haben wir Menschen die Atmosphäre bereits verändert? Und was passiert, wenn der Verkehr in der Luft und am Boden wochenlang einbricht?
Bislang gab es dazu nur Schätzungen. Global wurde am bisherigen Höhepunkt der Corona-Maßnahmen Anfang April täglich etwa 17 Prozent weniger CO₂ ausgestoßen, haben Forscher des Global Carbon Projects berechnet. Auch die Luft ist vielerorts deutlich sauberer geworden, das legen zumindest Satellitenaufnahmen nahe. Reale Messungen in verschiedenen Luftschichten, wie sie das Team um Voigt macht, fehlen aber bislang. In Höhen zwischen drei und 12 000 Metern untersuchen die Forscher die Atmosphäre, messen zum Beispiel den Gehalt von Stickoxiden und Aerosolen.
An diesem Dienstag Anfang Juni sollen die Piloten von Oberpfaffenhofen nach Irland fliegen, um vor der Küste Messungen zu machen. Auf der Karte geht das Team die Route durch. Das Unterfangen wäre in anderen Zeiten unmöglich: Rund 1000 Flugzeuge seien an normalen Tagen vor Irland unterwegs, erzählt Christiane Voigt. Trotz des Verkehrs sei die Luft dort aber besonders sauber. In den Tagen zuvor hat das Team vor allem in Metropolregionen gemessen - über Mailand, dem Ruhrgebiet oder Frankfurt am Main.
Es ist kurz vor neun, als die Crew einsteigt. Sieben Maskierte drängen sich zwischen die Reihen blinkender Instrumente, die nächsten neun Stunden verbringen sie auf wenigen Quadratmetern. Zum Schutz vor dem Coronavirus fliegt die Crew reduziert, mit Maske und immer in gleicher Besetzung. Christiane Voigt bleibt deshalb am Boden. Sie wird den Flug über Radar verfolgen. Zum Start zückt sie ihr Handy für Fotos.
Die Maschine schiebt sich Richtung Startbahn. Beide Flugzeuge tragen vorne eine Art Stachel in Rot-Weiß. Mit diesem sogenannten Nasenmast messen die Forscher Winde, Laserinstrumente an den Flügeln prüfen Aerosole und Wolkenpartikel in der Luft.
An ihrem Schreibtisch vergleicht Christiane Voigt die Flugdaten mit der jeweiligen Wetterlage. Viele Messungen liefern Erwartbares: Über dem Ruhrgebiet ging die Schadstoffbelastung mit Stickoxiden gegenüber dem Vorjahr zumindest vorübergehend zurück. Doch bei den Aerosolen wird es spannend. In höheren Luftschichten hat ihr Team im Mai weniger Aerosole als vor Corona-Zeiten gemessen. "Das ist ein echtes Highlight", erklärt Voigt . Es zeigt, dass sich der Anblick des Himmels durch die Krise tatsächlich verändert hat, nicht nur durch die fehlenden Kondensstreifen - auch Aerosole beeinflussen die Streuung des Sonnenlichts. "Klar ist schon jetzt, dass der Himmel durch den Rückgang der Aerosole blauer erscheint", sagt Voigt.
Doch es geht um mehr als Ästhetik. Aerosole sind ein schwieriges Thema für Klimaforscher. Es heißt, sie maskierten den Klimawandel, sie machen die Erwärmung schwerer einschätzbar. Einerseits können sie direkt Sonnenlicht reflektieren und dadurch eine kühlende Wirkung haben. Andererseits aber können sich an den winzigen Partikeln Tropfen und Eiskristalle bilden. Dieser Prozess wiederum beeinflusst die Wolkenbildung.
Ob eine Wolke wärmt oder kühlt, hängt unter anderem von ihrer Höhe ab: Stark vereinfacht kann man sagen, dass hohe Wolken eher Wärmestrahlung zur Erde zurückschicken und den Treibhauseffekt verstärken, während tiefe Wolken eher Sonnenlicht zurück ins All werfen und dadurch kühlend wirken. Ob das eine oder das andere eintritt und wie stark der Effekt ist, hängt aber auch von der Dichte der Wolke und ihrer Zusammensetzung ab. "Den Einfluss von Wolken besser zu verstehen, ist eine der großen Herausforderungen der Klimaforschung", sagt Christiane Voigt. So gilt die besser im Computer simulierte Wirkung von Wolken als wichtiger Grund, warum die Klimamodelle der neuesten Generation meist eine höhere Erwärmung vorhersagen als ihre Vorgänger. Mit den neuen Daten will Voigt die Zusammenhänge zwischen Aerosolen, Wolken und dem Klima genauer untersuchen.
Auch für sich allein sind Aerosole schwer berechenbar. Je nach Art können sie in beide Richtungen wirken: Während Ruß-Aerosole die Atmosphäre eher erwärmen, kühlen Schwefelverbindungen sie ab. Leugner des Klimawandels nutzen Aerosole deswegen als ein Argument, um den menschengemachten Anteil infrage zu stellen. Mehr Emissionen könnten dem Klima sogar nützen, weil mehr Sonnenstrahlung reflektiert werde, so die Behauptung. Allerdings stellt der Effekt von CO₂ alle anderen in den Schatten - und auch Aerosole können Schaden anrichten, direkt und indirekt.
Christiane Voigt öffnet auf ihrem Computer eine Simulation. Auf ihrer Weltkarte liegt über Nordamerika und Europa ein dunkelroter Schatten. Hier erwärmen Kondensstreifen die Atmosphäre besonders stark. Untersuchungen des DLR zeigen, dass Kondensstreifen etwa die Hälfte des Klimaeffekts vom Flugverkehr ausmachen können. Flugzeuge stoßen Rußpartikel aus, an denen Wasserdampf aus den Flugzeugabgasen kondensiert und in der kalten Höhenluft zu Eis gefriert. Es entsteht also eine Art künstlicher Höhenwolken, die Wärmestrahlung zur Erde reflektieren.
Der Flugverkehr nimmt bereits wieder zu, und auch die Schadstoffbelastung
Während CO₂ jedoch über Jahrhunderte in der Atmosphäre verbleibt, wirken Kondensstreifen maximal vier Stunden auf das Klima. Durch den aktuellen Rückgang der Kondensstreifen reduziere sich der gesamte vom Menschen verursachte Strahlungsantrieb um etwa zwei Prozent, sagt Christiane Voigt. "Das hört sich erst mal klein an, ist aber recht viel, wenn man bedenkt, dass allein der Effekt der Kondensstreifen betrachtet wird." Sie forscht daran, wie Fliegen in Zukunft nachhaltiger werden kann. Möglich sei das zum Beispiel durch alternative Treibstoffe, neue Technologien und wetterabhängige Flugrouten.
Klar ist, dass der Flugverkehr wieder zunimmt. Auf dem Online-Flugradar haben Falcon und Halo mittlerweile England erreicht. Für jedes Flugzeug in der Luft zeigt die Website ein kleines gelbes Icon auf der Weltkarte. Schon jetzt tummelt sich neben den beiden Forschungsflugzeugen eine Menge Gelb. Zu normalen Zeiten ist Europa damit fast komplett bedeckt. Über den großen Metropolen haben die Wissenschaftler von Bluesky bereits wieder ähnlich viele Schadstoffe gemessen wie im Vorjahr.