Schuldenbremse:Lindner macht Haushaltspolitik gegen alle Lehrbücher

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Christian Lindner möchte die Schuldenbremse einhalten. Doch Experten halten sie angesichts der massiven Herausforderungen für nicht mehr zeitgemäß. (Foto: LIESA JOHANNSSEN/REUTERS)

Der Finanzminister verliert im Streit um die Schuldenbremse immer mehr einst verlässliche Verbündete. Das muss ihn alarmieren.

Kommentar von Claus Hulverscheidt

Es wird wieder einmal einsam um Christian Lindner, jetzt, da auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sich für eine Lockerung der Schuldenbremse ausgesprochen hat. Die Kehrtwende der sogenannten Wirtschaftsweisen ist durchaus bemerkenswert, denn das Professorengremium hatte lange zu den emsigsten Verteidigern der im Grundgesetz verankerten Kreditobergrenze gehört. Dass man nun einer Reform das Wort redet, war nicht unbedingt zu erwarten. Der Druck auf den Bundesfinanzminister, aber auch auf die Union, ihre Nibelungentreue zu einer allgemein als unzulänglich erachteten Regel aufzugeben, wächst damit weiter.

Laut Schuldenbremse muss der Bund in Normaljahren mit neuen Krediten von maximal 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung auskommen. Das wären derzeit gut 14 Milliarden Euro. Schwächelt die Konjunktur, ist eine etwas höhere Verschuldung erlaubt, im Aufschwung dagegen verengt sich der Spielraum. Die Länder dürfen in normalen Zeiten gar keine neuen Darlehen mehr aufnehmen.

Dass es eine Schuldenbremse gibt, ist prinzipiell vernünftig, denn sie zwingt die Politik dazu, verantwortlich mit dem Geld der Steuerzahler umzugehen. Klar ist aber auch: Die geltende Regel ist angesichts der massiven Herausforderungen zu starr, zu dogmatisch, zu kleinkariert. Allein der klimagerechte Umbau des Landes bis 2045 wird einen Billionenbetrag kosten. Zugleich müssen Schulen saniert, die Forschung ausgebaut, Glasfaserkabel bis in die hintersten Winkel der Republik verlegt sowie das Mobilfunk- und das Schienennetz, Straßen und Brücken, Streitkräfte und Waffenarsenal technologisch auf Stand gebracht werden. Andernfalls riskiert Deutschland seinen Wohlstand und seine Sicherheit.

Das Gros der Investitionen wird die Wirtschaft stemmen müssen, aber auch auf den Staat kommen Ausgaben in beträchtlicher dreistelliger Milliardenhöhe zu. Diese können, ja müssen sogar, teils über Kredite finanziert werden, da auch künftige Generationen davon profitieren werden. Es nutzt den viel beschworenen Kindern und Enkeln nämlich gar nichts, wenn man ihnen zwar eine im globalen Vergleich sehr niedrige Staatsverschuldung, zugleich aber ein heruntergewirtschaftetes Land hinterlässt.

Der Finanzminister bekämpft eine Idee, der er in Europa selbst zugestimmt hat

Die Kehrtwende der Sachverständigen ist vor diesem Hintergrund ebenso begrüßenswert wie ihre konkrete Reformidee. Im Kern regen die Regierungsberater an, eine deutlich höhere Kreditaufnahme zu erlauben, wenn die Staatsschuld insgesamt niedrig und die laufende Zinslast überschaubar ist. Lindner müsste diese Logik eigentlich verstehen, denn er hat einer solchen Reform in Europa gerade erst zugestimmt. Umso seltsamer ist es, dass er daheim den entgegengesetzten Weg geht, die Nettokreditaufnahme stark zurückfährt und mit immer niedrigeren Schuldenquoten prahlt - und das in einer Rezession. Praktisch jedes ökonomische Lehrbuch empfiehlt die glatt gegenteilige Strategie.

Nun ist es, wie meist im Leben, allerdings auch in dieser Debatte so, dass keiner zu 100 Prozent recht oder unrecht hat. Lindner hat sehr wohl einen Punkt, wenn er fordert, dass die Frage nach einer Grundgesetzänderung nicht an den Anfang, sondern ans Ende der Diskussion gehört. Zuvor nämlich muss klar sein, welche Projekte so dringlich sind, dass sie eine höhere Kreditaufnahme rechtfertigen, und ob es sich in allen Fällen tatsächlich um Investitionen handelt, die irgendwann einmal eine gesamtgesellschaftliche Rendite abwerfen. Es ist nämlich kein Zufall, dass ausgerechnet SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich und seine Mitstreiter die Schar der Schuldenbremsenreformer anführen - jene Truppe also, die nicht zögern würde, auch neue Frühverrentungsprogramme, Mietpreishilfen oder andere soziale Wohlfühlprojekte zur Investition zu verklären, wenn das die Finanzierung vereinfacht.

Wer die Schuldenbremse lockern will, muss in dieser Frage unverdächtig sein. Mützenich und seine Getreuen darf Lindner deshalb getrost ignorieren. Den Sachverständigenrat aber nicht.

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