Dax-Konzern in der Krise:Die dunklen Tunnel von Wirecard

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Dem Dax-Konzern Wirecard könnte angesichts des Skandals eine Klagewelle von Aktionären drohen. (Foto: Sven Simon/imago)

Der Treuhänder, der für Wirecard 1,9 Milliarden Euro verwaltet haben soll, ist einst wegen fragwürdiger Geschäfte aus der philippinischen Regierung geflogen. Der Verbleib des Geldes ist weiterhin ungeklärt. Damit verdichten sich die Anzeichen für einen riesigen Betrug.

Von C. Giesen, K. Ott, N. Richter, J. Schmitt, J. Willmroth und N. Wischmeyer

Es war ein handfester Skandal vor zwei Jahren auf den Philippinen: Hals über Kopf wurde der für den Eisenbahnbau zuständige Abteilungsleiter im Verkehrsministerium gefeuert - von Präsident Rodrigo Duterte persönlich, wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten: Das Ministerium begrüße und unterstütze nachdrücklich die Entscheidung von Präsident Rodrigo Duterte, die Dienste von Mark Tolentino wegen "fragwürdiger Geschäfte" zu beenden, hieß es damals in einer Pressemitteilung. Ein unrühmlicher Abgang für Abteilungsleiter Tolentino. Würde man so einen Mann zum Treuhänder über 1,9 Milliarden Euro machen?

Bei Wirecard ist genau das geschehen. Im Herbst 2019 wurde jener unehrenhaft entlassene Beamte zum Treuhänder bestellt. Insgesamt sechs Konten will er bei der Bank of the Philippine Islands und der BDO Unibank für das deutsche Unternehmen geführt haben. Für Wirecard UK & Ireland Ltd soll er 393,5 Millionen Euro angelegt haben. Für die Wirecard Technology GmbH waren es 400,5 Millionen. 30 Millionen für die Wirecard AG, 20 Millionen für die Wirecard Sales International GmbH und schließlich fast 1,1 Milliarden für die Tochterfirma Cardsystem Middle East FZ LLC. Insgesamt also: 1,938 Milliarden Euro. Alles in Euro vermerkt, nicht etwa in philippinischen Peso oder wenigstens in Dollar. Das säte zuletzt Zweifel bei Rechnungsprüfern, die bei den beiden Banken nachfragten. Deren Antwort: Frühere Bescheinigungen über die Konten und deren Geldbestände seien Fälschungen. Ein krimineller Angestellter habe Dokumente und Unterschriften gefälscht, teilte BDO-Chef Nestor Tan später mit. Zu Wirecard bestünden keine geschäftlichen Beziehungen. Die Bank of the Philippine Islands erklärte ebenfalls, dass Wirecard kein Kunde sei. Wobei: Kunde soll ja der Treuhänder Tolentino sein, nicht Wirecard. Aber was ist mit dem Geld? Es ist unauffindbar.

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Von Christoph Giesen, Klaus Ott, Nicolas Richter, Jörg Schmitt, Nils Wischmeyer

Für Wirecard ist das eine Katastrophe. Mit einem Mal hängt der einst gefeierte Dax-Aufsteiger am Tropf seiner Gläubigerbanken, die Ratingagentur Moody's hat die Kreditwürdigkeit auf Ramschniveau herabgestuft, es droht ein Abfluss von Kundeneinlagen bei der konzerneigenen Bank. Deutschland erlebt einen beispiellosen Finanzskandal. Es ist ein Desaster für den Wirtschaftsstandort, für die Finanzaufsicht und die Wirtschaftsprüfer, die Wirecards Bilanzen unterschrieben haben.

Aus dem Umfeld des Konzerns heißt es, man sei das Opfer eines riesigen Betrugs

Wurde monatelang unbemerkt von Rechnungswesen, Controlling und Konzernanwälten, versteckt vor Vorständen und Aufsichtsräten, ein Betrag zur Seite geschafft, der dem gesamten Nettogewinn von 2012 bis 2019 entspricht? Oder hat es die 1,9 Milliarden Euro nie gegeben, sollte der Umsatz künstlich aufgeblasen werden, um den Aktienkurs zu steigern?

Am Sonntag legte die philippinische Zentralbank nach: Das Geld habe "nie das philippinische Finanzsystem erreicht". Gemerkt hätten sie das wohl: 1,9 Milliarden Euro machen etwa fünf Prozent aller Fremdwährungseinlagen aus. Allerdings nicht einer Bank, sondern der des gesamten Banksystems der Philippinen.

Die SZ hat mehrere Anfragen an Wirecard geschickt. Das betraf den fragwürdigen Treuhänder Tolentino und auch die offenbar mangelhafte Compliance bei Wirecard. Die SZ wollte wissen, ob nunmehr alle Treuhänder systematisch überprüft würden. Außerdem ging es um den freigestellten Vorstand Jan Marsalek, in dessen Verantwortungsbereich die Vorgänge auf den Philippinen gefallen sein sollen. Das Unternehmen äußerte sich dazu nicht. Marsalek, der seit Donnerstagnachmittag beurlaubt ist, war nicht erreichbar.

Kunden erhielten am Wochenende eine E-Mail: Ihr Geld sei über Einlagensicherungen geschützt

Aus dem Umfeld des Konzerns hieß es, man könne sich auf Anraten der Anwälte wegen der drohenden Klagewelle von Aktionären nicht äußern. Aber: Wirecard sei das Opfer eines riesigen Betrugs. Möglicherweise sei in Asien Geld veruntreut worden. Es sei nicht klar, ob die philippinischen Treuhänder im Vorfeld durchleuchtet worden seien. Im Fall von Tolentino hätten fünf Minuten googeln genügt, um Zweifel zu bekommen. Zudem hatten Sonderprüfer von KPMG vor Monaten versucht, die Geschäftsbeziehung zwischen Tolentino und Wirecard nachzuvollziehen. In einem KPMG-Bericht heißt Tolentino anonymisiert "Treuhänder 2": Niemand habe den Prüfern Dokumente vorgelegt, wonach Wirecard in irgendeiner Form die Zuverlässigkeit von Tolentino beurteilt habe. Man habe nur einen Vorstandsbeschluss vom 20. Februar zu sehen bekommen, in dem er als neuer Treuhänder benannt werde. Alternativen zu Tolentino seien in dem Beschluss nicht aufgeführt gewesen.

Das führt zu der Frage, ob Marsalek, der für das Asiengeschäft zuständige Vorstand, der Hauptverantwortliche für den Skandal ist. Oder ob Wirecard versucht, die Verantwortung auf ihn abzuschieben. Ein Einzeltäter - ist das plausibel? War alles nur ein großer Betrug; wurde gar Markus Braun hintergangen, 18 Jahre lang Kopf des Konzerns, der ihn aufgebaut und in den Dax geführt hat, bevor er jetzt wegen des Skandals zurücktrat? Soll ein einzelner Vorstand alle hinters Licht geführt haben - und der Aufsichtsrat hat nichts unternommen? Das wird aufzuklären sein.

Die wichtigste Währung für den Konzern ist das Vertrauen, der Banken, vom Kapitalmarkt und der eigenen Kunden. Mehr als 1,7 Milliarden Euro haben letztere auf Konten bei Wirecard liegen. Am Wochenende erhielten die Kunden eine E-Mail, in der Wirecard erklärt, dass ihr Geld über Einlagensicherungen geschützt sei. Offenbar ist die Sorge groß, Kunden könnten ihr Geld abziehen. Das würde das Unternehmen hart treffen. Immerhin gab der Konzern noch im September 2019 an, 3,2 Milliarden Euro an Cash zu haben, Geld also, das direkt zur Verfügung steht. Weitere 550 Millionen sollen in längerfristigen Anlagen ruhen. Zieht man davon jene 1,9 Milliarden Euro ab, die auf den Philippinen vermisst werden, wäre außer den Kundengeldern in Höhe von 1,7 Milliarden Euro nicht mehr viel übrig. Wirecard erklärte dazu, man überwache selbstverständlich fortlaufend die Liquiditätssituation. "Die Wirecard Bank steht wie sonst auch in einem konstruktiven, vertrauensvollen Dialog mit ihren Aufsichtsbehörden."

© SZ vom 22.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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