Wirecard:Eine spektakuläre Pleite, eine filmreife Flucht - und ein Brief aus dem Off

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Jan Marsalek (links) ist einer der Hauptverdächtigen im Wirecard-Skandal und vor drei Jahren untergetaucht. Ex-Vorstandschef Markus Braun (rechts) steht in München vor Gericht. (Foto: dpa, imago, Collage: SZ)

Jan Marsalek, der untergetauchte Ex-Vorstand des insolventen Zahlungsdienstleisters, hat ein Lebenszeichen gesendet. Worum es beim Wirecard-Prozess geht und wieso das Schreiben von Marsaleks Anwalt bedeutend ist.

Von Oliver Klasen und Kassian Stroh

Seit acht Monaten wird in München vor Gericht die atemberaubende Pleite des Finanzdienstleisters Wirecard verhandelt. Nicht dabei ist Ex-Vorstand Jan Marsalek, einer der mutmaßlich Hauptverantwortlichen, der wohl nach Moskau geflohen ist. Geredet wird im Gerichtssaal trotzdem ständig über ihn und seine Rolle.

Am Dienstagabend kam dann die überraschende Nachricht: Marsalek hat sich gemeldet, über seinen Anwalt, der einen Brief an die Staatsanwaltschaft und das Landgericht schrieb. Über den Inhalt ist bisher wenig bekannt, gleichwohl löst das Schreiben erheblichen Wirbel aus. Auch am Mittwochmorgen im Gerichtssaal, wo sich das Gericht gegen das Ansinnen der Verteidigung stellt, den Brief als Beweismittel zuzulassen. Ein turbulentes Wortgefecht ist dort zu erleben. Worum geht es bei diesem Wirtschaftsskandal? Ein Überblick.

Was ist bei Wirecard eigentlich passiert?

Mit Superlativen sollte man vorsichtig sein, und ob die Pleite des Finanzdienstleisters Wirecard nun eine der größten in der deutschen Geschichte war, ist Ansichtssache. Mit Sicherheit war sie eine der spektakulärsten. Der in Aschheim bei München ansässige Konzern hatte seit der Jahrtausendwende einen bemerkenswerten Aufstieg hingelegt, 2018 zog er sogar in den Aktienindex Dax ein. Zwar gab es immer wieder Berichte über Unstimmigkeiten in den Bilanzen, das aber bremste die Anleger kaum.

Im Juni 2020 wurde bekannt, dass auf Treuhandkonten in Asien insgesamt 1,9 Milliarden Euro fehlten, vermutlich gar nie existierten - etwa ein Viertel der Bilanzsumme des Konzerns. Der für den Vertrieb und das Asiengeschäft zuständige Vorstand Marsalek wurde freigestellt, Vorstandschef Markus Braun trat zurück, die Aktie wurde nahezu wertlos. Wirecard meldete Insolvenz an und wird bis heute abgewickelt, für die Anleger entstand ein Milliardenschaden.

Welche Rolle spielte Marsalek und wird er dafür belangt?

Das ist die große Frage - und offen ist, ob und wann sie juristisch geklärt wird. Gegen Marsalek und Braun erging noch im Juni 2020 ein Haftbefehl wegen des Verdachts auf Marktmanipulation. Später kam der Verdacht des gewerbsmäßigen Bandenbetrugs hinzu. Braun stellte sich den Behörden, er sitzt noch immer in Untersuchungshaft. Marsalek tauchte unter.

Marsalek, 1980 in Wien geboren, saß seit 2010 im Vorstand von Wirecard. Sollte der Vorwurf der Strafverfolger stimmen, dass der Konzern Geschäfte in Asien quasi fingierte, um seine Bilanz zu verbessern, einen Wachstumskurs vorzutäuschen und die Aktionäre zufriedenzustellen, dann wäre er einer der Hauptverantwortlichen dafür. Er war im Vorstand für diese Geschäfte zuständig, galt als rechte Hand des Firmenchefs Braun. Aktuell wird er mit einem internationalen Haftbefehl gesucht.

Was ist über seine Flucht und seinen derzeitigen Aufenthaltsort bekannt?

Schon immer soll Marsalek ein Faible für Geheimdienstler gehabt haben, samt entsprechenden Kontakten etwa nach Österreich und Russland. Entsprechend geheimnisvoll sind die Umstände seiner Flucht. Nachdem er bei Wirecard nichts mehr zu sagen hatte, kündigte Marsalek an, er fliege nun auf die Philippinen, um dort die angeblich verschwundenen Milliarden zu suchen. Nach allem, was man weiß, nahm er aber einen Privatjet, den er bar bezahlte, von einem Flugplatz bei Wien nach Minsk. Dort verlor sich zunächst seine Spur.

Viel spricht dafür, dass er später unter dem Namen German Bazhenov ein neues Leben in Moskau begann. Ein durchaus entspanntes Leben, das seiner Freude an teurem Essen und gutem Wein entgegenkam. Zumindest in diesem Frühjahr war dies noch so, wie die Süddeutsche Zeitung erfuhr - neuere Informationen gibt es bisher nicht.

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Was weiß man über den Brief seines Anwalts und warum ist er bedeutend?

Irgendwann in den vergangenen zwei Wochen ging beim Landgericht und der Staatsanwaltschaft München I ein achtseitiges Schreiben von Marsaleks Anwalt ein. Öffentlich ist dieses bislang nicht. Offenbar geht der Anwalt darin nicht auf die konkreten strafrechtlichen Vorwürfe gegen Marsalek ein. Wohl schreibt er aber etwas zum sogenannten Drittpartnergeschäft, das für die Wirecard-Pleite entscheidend war. Kurz gesagt funktionierte das offiziell so: In Ländern, in denen Wirecard nicht auftreten durfte, etwa in Asien, wurden Kunden an scheinbar unabhängige Firmen ausgelagert. Wirecard stellte offiziell nur die Technik und kassierte Provisionen. Diese Erlöse waren zentral für die Erfolgsgeschichte von Wirecard.

Die Münchner Staatsanwälte sagen nun: Eine kriminelle Bande rund um Vorstandschef Braun erfand entsprechende Scheingeschäfte, um die Bilanz zu verbessern. Braun sagt, die Geschäfte hätten sehr wohl existiert, die Erlöse aber seien von Marsalek und seinen Komplizen hinter seinem Rücken beiseite geschafft worden. Im Schreiben von Marsaleks Anwalt heißt es nun offenbar, dass dieses Drittpartnergeschäft sehr wohl existierte. Das kommt Braun gelegen.

Wer steht wegen der Wirecard-Pleite vor Gericht?

Seit Dezember läuft in München ein großer Prozess. Hauptangeklagter ist Braun, der 18 Jahre an der Spitze des Unternehmens stand, bis es im Juni 2020 zusammenbrach. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm bandenmäßigen Betrug, Veruntreuung von Firmengeldern, Bilanzfälschung und Marktmanipulation vor. Würde Braun in allen Punkten schuldig gesprochen, könnte er im Extremfall für bis zu 15 Jahre ins Gefängnis gehen.

Mitangeklagt sind zwei weitere Männer, die früher leitende Positionen bei Wirecard innehatten: der ehemalige Wirecard-Chefbuchhalter Stephan E. sowie der frühere Statthalter des Konzerns in Dubai, Oliver Bellenhaus. Bellenhaus ist zugleich der Kronzeuge für die Staatsanwaltschaft. Sie will beweisen, dass Braun der Kopf einer Bande war, die das Unternehmen über Jahre systematisch ausplünderte. Braun, so die Ermittler, soll mit seinen Komplizen im Jahr 2015 den Plan gefasst haben, die Bilanzen von Wirecard aufzublähen, um Investoren und Aktionäre zu täuschen.

Wie verteidigt sich Ex-Vorstandschef Braun?

Braun bestreitet sämtliche Vorwürfe. Sein Anwalt Alfred Dierlamm will nachweisen, dass Braun kein Täter, sondern im Gegenteil selbst Opfer krimineller Machenschaften im Unternehmen gewesen sei. Eine Gruppe mit Marsalek an der Spitze, an der auch Bellenhaus maßgeblich beteiligt gewesen sei, habe Wirecard ausgeplündert und Geld beiseite geschafft.

Das Drittpartnergeschäft, so Dierlamm, sei keine Erfindung, sondern wirklich existent gewesen. Allerdings hätten Marsalek und Bellenhaus gezielt eine Reihe von Firmen gegründet und die Erlöse aus dem Drittpartnergeschäft, die eigentlich Wirecard hätten zufließen müssen, dorthin verschoben. Damit das in der Wirecard-Zentrale nicht auffiel, habe die Bande Umsätze erfunden und diese auf vermeintlichen Treuhandkonten geparkt. Wirecard-Insolvenzverwalter Michael Jaffé freilich schrieb schon 2021: Das Geschäft mit sogenannten Drittpartnern vor allem in Asien "hat es bei Wirecard nicht gegeben".

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