Wirecard-Prozess:"Die Rechtsabteilung war chaotisch"

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Der frühere Wirecard-Vorstandschef Markus Braun (links) sitzt während des Wirecard-Prozesses auf seinem Platz im Gerichtssaal, neben ihm sein Anwalt Nico Werning. (Foto: Angelika Warmuth/dpa)

Die Chefjuristin von Wirecard berichtet, wie überfordert ihr Team gewesen sei. Markus Braun sei an Aufklärung aber ohnehin nicht interessiert gewesen. Offen bleibt, warum sie selbst so lange blieb.

Von Johannes Bauer

Fast ihr halbes Leben hat Andrea Görres diesem einen Arbeitgeber gewidmet. "Sie sind ja auch ein Urgestein bei der Wirecard gewesen", sagt Markus Födisch, Vorsitzender Richter im Wirecard-Prozess am Mittwoch in ihre Richtung. "Mitarbeiterin 13 oder 14." Görres scheint das etwas unangenehm zu sein: "So ungefähr", sagt sie dann und es wirkt, als habe sie sich schon mehr als einmal gefragt, ob sie das Unternehmen nicht früher hätte verlassen sollen. Ob sie nicht die Reißleine hätte ziehen sollen, als der Vorstand ihre Bedenken wieder einmal ignorierte. Ob sie nicht etwas hätte ausrichten können, bevor Wirecard zum größten deutschen Wirtschaftsskandal wurde.

Zur Jahrtausendwende hatte Görres bei Wirecard zunächst im Marketing begonnen, ein Jahr später wechselte die Juristin in die Rechtsabteilung, baute sie aus und leitete später die Abteilung mit zwölf Mitarbeitern. Nur zwölf - ihr Team war überfordert. "Wir konnten nicht alles machen, es ist sehr viel liegen geblieben", sagt Görres. Für mehr Personal aber fehlte das Budget bei dem Konzern, der am Ende sogar im Dax geführt war. Wenn sie darauf hinwies, habe der Vorstand beschwichtigt: Es laufe doch gut in ihrer Abteilung.

Wer ihr zuhört, kann sich das kaum vorstellen. Chaotisch sei die Rechtsabteilung gewesen, sagt Görres. "Weil es keine festen Ansprechpartner gab und Arbeiten teilweise doppelt gemacht wurden." Ihr Team habe unter anderem die Verträge entworfen und Rechtsfragen beantwortet. Innerhalb ihrer Abteilung habe sie auch eine Kontrollfunktion gehabt. "Aber eine Kontrollfunktion im Sinne, ich hätte etwas unterbinden können?", nimmt sie eine Frage des Richters voraus. "Nein."

Schwierig zu sagen, ob es wirklich so war oder ob sich Görres einredet, dass sie nichts tun konnte, um den Zusammenbruch im Juni 2020 zu verhindern. Damals musste Markus Braun einräumen, dass 1,9 Milliarden Euro, die auf Konten in Asien liegen sollten, nicht da waren. Wirecard musste Insolvenz anmelden, der Aktienkurs rutschte in den Keller und Aktionäre verloren viele Milliarden Euro. Görres sagt, sie habe all das ziemlich hart getroffen. "Und das ist noch eine Untertreibung."

Die Compliance war weitgehend machtlos

Die Schuldfrage in diesem Skandal ist bisher ungeklärt, vor Gericht verantworten müssen sich Ex-Konzernchef Markus Braun, der ehemalige Statthalter des Konzerns in Dubai, Oliver Bellenhaus, und Stephan E., einst Chefbuchhalter des Aschheimer Zahlungsdienstleisters. Zu allen kann Görres als langjährige Mitarbeiterin etwas erzählen - und in allen Episoden kommen die Beteiligten mehr als schlecht weg.

Mit Stephan E. diskutierte Görres beispielsweise über das Nachdatieren von Verträgen. Sie habe gesagt, das gehe nicht. Und Stephan E.? "Dass das kein Problem sei." Wenige Minuten später räumt Görres noch ein, dass auch zwei Protokolle für die Wahlen des Aufsichtsrats der Wirecard Bank rückdatiert wurden. Bei der Vorbereitung für eine Hauptversammlung habe ihr Team die Unterlagen für 2012 und 2017 nicht gefunden, also seien die Protokolle nachträglich erstellt worden - eins davon habe Görres dann selbst unterschrieben.

Auf ein solches Fehlverhalten hinzuweisen, ist eigentlich Aufgabe der Compliance-Abteilung, die jedes größere Unternehmen hat. Bei Wirecard war aber auch dafür lange die Rechtsabteilung zuständig, zusätzlich zu allem anderen. Markus Braun hatte eine klare Meinung: nämlich "dass man Compliance nicht brauche, dass das ein Scheiß sei". So habe es Görres einst bei einer Vernehmung erzählt, hält ihr der Richter vor. An den Wortlaut könne sie sich heute nicht mehr erinnern, sagt Görres, aber das höre sich plausibel an, "weil das seine Haltung zur Compliance war". Ohnehin habe die Compliance-Abteilung keinen hohen Stellenwert gehabt, sei als "lästig" wahrgenommen worden. Ähnliches hatte vor Gericht auch schon der Leiter der Compliance berichtet.

Klare Ansage am Nachmittag

Wie genau sie selbst es mit der Wahrheit und Wahrhaftigkeit nimmt, darüber weckt die Zeugin beim Gericht allerdings auch Zweifel. Im Lauf ihrer Aussage wird der Ton jedenfalls merklich schärfer. Richter Födisch kann sich nicht vorstellen, dass sich die Juristin an viele Dinge nicht mehr erinnert, die viel mehr sind als nur Details. So wie die Mail, die sie Oliver Bellenhaus wegen der Liste des Wirecard-Buchhalters Kai Z. geschrieben hat. Die Liste besagte, dass fast der gesamte Gewinn von Wirecard von Geschäften mit drei völlig unbekannten Firmen abhing. Ein Artikel der Financial Times dazu nährte Zweifel am damaligen Dax-Konzern. Zeitung und Konzern zankten sich, ob die Liste denn aussagekräftig sei. In der öffentlichen Wahrnehmung setze sich Wirecard durch, vorerst wenigstens.

Und doch, sie habe damals Bedenken gehabt, ob die Liste nicht doch echt sei, sagt Görres nun vor Gericht. Diese Bedenken hätte sie aber äußern müssen, entgegnet ihr Födisch, spätestens als der japanische Softbank-Konzern wenig später mit 900 Millionen Euro bei Wirecard einstieg. Staatsanwältin Inga Lemmers mahnt die Zeugin, sich genau zu erinnern. "Sonst steht irgendwann im Raum, dass wir sie als Gehilfin zum Betrug erfassen." Nach einer kurzen Verhandlungspause stellt Görres dann klar: "Diese Liste gab es für mich nicht."

Ob sich Brauns Verteidigung damit zufriedengibt? Am Montag haben die Anwälte und Angeklagten Gelegenheit, die Zeugin zu befragen.

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