Die Wasserstoffwelt von Ulrike Beyer passt auf eine Platte, etwa so groß wie ein Esstisch für sechs Personen. Sie ist vollgepackt mit Plexiglaswürfeln, auf denen Wörter wie Umformen, Reinigen und Fügen stehen. Oder Afrika und Europa, das sind Regionen, aus denen Wasserstoff geliefert werden könnte. Auf einem Würfel sind Rohrleitungen zu sehen, die Wasserstoff transportieren könnten. Es sind viele Klötze, angeordnet um und auf zwei ineinander verschachtelte Buchstaben H in Sonnengelb und Frühlingsgrün. H wie Wasserstoff. Es ist das leichteste chemische Element, das auf der Erde vorkommt, aber in der Natur nie allein, sondern immer in Verbindungen wie Wasser (H₂O) oder Methan (CH₄).
Nun soll Wasserstoff die Rettung sein. Er lässt sich durch Elektrolyse aus Wasser gewinnen, das dabei in Wasserstoff (H₂) und Sauerstoff (O) zerlegt wird. "Das ist kein vorübergehender Hype", sagt Rolf Najork, Geschäftsführer und Fertigungschef von Bosch. Die Technologie adressiere ein paar fundamentale Herausforderungen dieser Zeit: die Elektrifizierung und Dekarbonisierung nicht nur der Industrie, "sondern unseres ganzen Lebens". Das klingt gut, aber damit das passiert, gilt es noch viele Hürden zu nehmen. Damit die Industrie künftig wirklich weniger klimaschädliches Kohlendioxid (CO₂) ausstößt und sich aus der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern und Rohstoffen wie Öl und Erdgas löst, müsse der Wasserstoff grün sein, sagt Reimund Neugebauer, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft. Das bedeutet: Der Strom für die Elektrolyse muss aus erneuerbaren Energien stammen.
Davon ist man heute weit entfernt. In Deutschland werden nach Angaben der bundeseigenen Deutschen Energie-Agentur (Dena) derzeit zwischen 55 bis 60 Terawattstunden Wasserstoff im Jahr produziert und verwendet. 95 Prozent davon würden durch Dampfreformierung aus Erdgas erzeugt, so die Dena, "wobei erhebliche Mengen CO₂ freigesetzt werden." Den so erzeugten Wasserstoff bezeichnet man als grau. Der künftige Bedarf unterscheidet sich je nach Studie und Szenario deutlich, heißt es von der Dena. Demnach würden im Jahr 2030 in Deutschland zwischen 65 und 100 Terawattstunden kohlenstoffarmer Wasserstoff nachgefragt. In der frühen Anlaufphase werde der Anteil von grünem Wasserstoff "gering sein", so die Dena; für 2030 rechnet sie mit einer inländischen Produktion von 14 bis 28 Terawattstunden. Der Aufbau einer leistungsfähigen Wasserstoffwirtschaft sei mit einer Vielzahl von Herausforderungen und Risiken verbunden.
"Heute kann ein Habicht einen Windpark verhindern."
"Wir verurteilen den Krieg in der Ukraine scharf", sagt Bosch-Manager Najork: "So traurig es auch ist, die geopolitischen Verwerfungen sorgen jetzt für den beschleunigten Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft." Allerdings, mahnt Sopna Sury: "Auch die Gasmärkte werden sich wieder beruhigen." Sury leitet das Wasserstoffgeschäft von RWE Generation; das Unternehmen betreibt bislang vor allem große Gas- und Kohlekraftwerke in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden. Und nicht überall ist der Einsatz von Wasserstoff sinnvoll, darin sind sich viele Fachleute einig. In Deutschland sei der Einsatz in der Stahl- und in der Chemieindustrie sinnvoll, sagt Fraunhofer-Präsident Neugebauer: "Da sind die großen Hebel, weil sie große Emittenten von Treibhausgasen sind". Bei der Produktion von einer Tonne Stahl etwa entstünden heute in Deutschland 1,5 Tonnen CO₂.
"Die gesamte Wasserstoffwirtschaft steht und fällt mit dem Volumen an erneuerbaren Energien", sagt Fraunhofer-Präsident Neugebauer. So sieht das auch Bosch-Manager Najork: "Die größte Hürde ist die Verfügbarkeit von Grünstrom." "Im Moment haben wir gar nicht so viel Strom aus Wind und Sonne, um den Bedarf an Wasserstoff zu decken", sagt Neugebauer. Und der Ausbau stocke. "Heute kann ein Habicht einen Windpark verhindern. Und nicht jedes Dach lässt sich zu tragbaren Kosten mit Solarpaneelen nachrüsten." Bei den Regularien müsste sich sehr viel ändern, etwa bei den Abstandsregeln für Windkrafträder oder bei den Bauvorschriften für Häuser. Und: "Wir brauchen auch von Wind und Wetter unabhängige Primärenergiequellen", fordert Neugebauer.
"Wir müssen unsere Energiebezüge diversifizieren."
Er plädiert für Kernfusion, genauer genommen die Trägheitsfusion, an der Fraunhofer mit internationalen Partnern forsche. Noch sei Deutschland jedoch Jahrzehnte entfernt von industriellen Kernfusionskraftwerken. "Vielleicht 2040", so Neugebauer. Den gesamten Wasserstoffbedarf aus einer Produktion zu decken, ist nicht möglich, schreibt die Dena. "Wir werden künftig Netto-Importeur von erneuerbaren Energien und von Wasserstoff werden", erwartet Bosch-Mann Najork: Für eine vollständige Autarkie bei der Energieversorgung werde das inländische Angebot nicht reichen, "obwohl dies natürlich wünschenswert wäre. Wir müssen unsere Energiebezüge diversifizieren, denn auch vermeintlich stabile politische Beziehungen können instabil werden, das sehen wir ja gerade", sagt Najork.
Liest man einschlägige Studien, scheint das Potenzial von Wasserstoff fast grenzenlos. Er kann als Speicher für erneuerbare Energien eingesetzt werden. In einer Art umgekehrten Elektrolyse kann aus Wasserstoff in Brennstoffzellen Strom gewonnen werden, der dann Elektromotoren in Autos und Nutzfahrzeugen antreibt. Er kann mit Hilfe anderer Gase weiterverarbeitet werden zu Grundchemikalien wie Ammoniak, Ethylen und Propylen.
"Wasserstoff ist ein Mega-Allrounder", sagt Beyer. Jeder ihrer Sätze steckt voller Optimimus. Die Maschinenbau-Ingenieurin arbeitet für das Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik (IWU) in Chemnitz. Sie leitet die Taskforce Wasserstoff. Und die Plexiglasklötze, die sie kürzlich bei der Hannover Messe zeigte, sind ihre "Referenzfabrik". Das Modell zeigt, was nötig ist, um eine Wasserstoffwirtschaft aufzubauen: viele Elektrolyseure und Brennstoffzellen, stationäre und mobile. "Im Moment werden die Deutschland eher in manufakturellem Maßstab hergestellt", sagt Ingenieurin Beyer: "Die Volumina sind sehr klein. Das muss sich schnell ändern, und das ist auch zu schaffen."
Eine, die Wasserstoff künftig im großen Stil erzeugen will, ist RWE-Frau Sury. Bis zum Jahr 2030 wolle der Konzern Elektrolyseure mit einer Kapazität von 2000 Megawatt aufgebaut haben. Das entspricht ungefähr der Leistung zweier großer Atomkraftwerke. Zwar spreche RWE bereits mit Elektrolyseur-Herstellern wie etwa Linde oder Sunfire aus Dresden. "Da passiert gerade schon was", erzählte Sury kürzlich auf dem "her.summit", einer Veranstaltung für Managerinnen im Ruhrgebiet. Und trotzdem, sagt sie: "Jeder wartet so ein bisschen ab." Abnehmer wollen genau wissen, wie viel Wasserstoff sie denn wann endlich kaufen können. Netzbetreiber wissen noch nicht, wann sie bestehende Erdgasleitungen für Wasserstoff umwidmen werden. Und auch RWE werde nur bauen, sagt Sury, wenn die Rahmenbedingungen stimmten. "Wir reden von enormen Kosten." Ein Elektrolyseur mit einer Kapazität von 100 Megawatt, wie RWE ihn etwa in Lingen im Emsland bauen will, koste etwa 200 Millionen Euro.
Brüssel droht, die Wasserstoffwirtschaft abzuwürgen
Viele Wasserstoff-Vorhaben haben sich in Brüssel um staatliche Förderung beworben. Doch Zusagen stehen noch aus. Zudem definiert die EU derzeit, woher der benötigte Ökostrom kommen muss, damit Wasserstoff als "grün" gelten darf. Und da drohe Brüssel "die komplette Wasserstoffwirtschaft abzuwürgen", schimpft Sury. Konkret hat die EU-Kommission zuletzt vorgeschlagen, dass Strom für Elektrolyseure vom Jahr 2027 an nur noch aus neu gebauten Wind- und Solarparks ohne öffentliche Förderung stammen soll. Und sie sollten immer nur dann Wasserstoff erzeugen, wenn nahezu zeitgleich auch der Ökostrom erzeugt wird. Doch das würde bedeuten: In Zeiten ohne Wind und Sonne ständen Elektrolyseure still - für deren Wirtschaftlichkeit ein Nachteil. Sury hofft, dass sich die Vorgaben noch ändern werden.
Wissenschaftlerin Beyer schiebt die Klötze auf der Platte zu immer neuen Kombinationen. "Die Technologien, um zentrale Komponenten für Elektrolyseure und Brennstoffzellen herzustellen, ist in Deutschland vorhanden, die komplette Wertschöpfungskette", sagt Beyer. Da sind zum Beispiel die Bipolarplatten. Für die Massenproduktion sollen sie aus Metall hergestellt werden, weil das am preisgünstigsten sei. "Es gibt in Deutschland Firmen, die können Metall formen, schneiden und pressen und solche, die die Maschinen dafür herstellen", sagt Beyer. "Man muss sie nur vernetzen." Fraunhofer sehe sich als technischer Inkubator und Vermittler. Die Produktionsschritte sollen in einem digitalen Zwilling der Referenzfabrik dargestellt werden, auch um verschiedene Produktionsverfahren für eine Komponente zu vergleichen.
Auch Bosch will sich in diesem Markt positionieren. In die Entwicklung mobiler Brennstoffzellen wolle Bosch von 2021 bis 2024 eine Milliarde Euro investieren, "erste Systeme sollen in den nächsten Monaten auf den Markt kommen", sagt Manager Najork. In China hat der Nutzfahrzeughersteller Qingling bereits eine Testflotte von 70 Fahrzeugen mit mobilen Brennstoffzellen von Bosch ausgestattet. Die Brennstoffzellen-Lkw des US-Start-ups Nikola Motor sollen 2023 in Serie gehen. Eine halbe Milliarde Euro investiert Bosch in stationäre Brennstoffzellen, die 2024 in Serie gehen sollen. "Sie werden dezentral und flexibel am Ort des Verbrauchs eingesetzt, etwa in Fabriken, Städten oder Rechenzentren", sagt Najork: "Viele Märkte entstehen erst."
Hochofen als Reallabor
Deutschlands größter Stahlhersteller Thyssenkrupp wollte die neue Wasserstoff-Welt schon mal ausprobieren. In einen der vier Hochöfen in Duisburg, die aus Eisenerz rohes Eisen für die Stahlherstellung produzieren, will der Konzern Wasserstoff statt bislang Kohlenstaub einblasen. Der Test zählt zu den sogenannten Reallaboren der Energiewende; das Bundeswirtschaftsministerium versprach eine Förderung über 37 Millionen Euro. Wenn man den Kohlenstaub durch "grünen" Wasserstoff ersetzt, kann das die CO₂-Bilanz des Hochofen-Stahls um bis zu 20 Prozent verbessern. Doch weil es bislang so wenig "grünen" Wasserstoff gibt, wollte Thyssenkrupp zunächst mit "grauem" aus Erdgas beginnen. Genau das entpuppt sich nun als Problem.
Denn um Wasserstoff durch alle bisherigen Kohlenstaub-Düsen des Hochofens zu blasen, braucht es "signifikante Mengen des Gases", erklärt Thyssenkrupp. Doch weil Erdgas infolge des russischen Angriffs Russlands deutlich teurer geworden ist, seien auch die Kosten für "grauen" Wasserstoff "in einem für das Projektbudget nicht tragbaren Ausmaß gestiegen", konstatiert das Unternehmen. Der Ersatz des Kohlestaubs muss erst mal warten.
Nun bereitet Thyssenkrupp schon mal das Baufeld für die eigentliche Wasserstoff-Zukunft in Duisburg vor. So will der Konzern die Hochöfen nach und nach abreißen und durch neue Anlagen ersetzen, die statt Kohle Erdgas und langfristig Wasserstoff verbrennen. "Und oben kommt Wasserdampf raus", beschreibt Marie Jaroni die Vision. Die promovierte Ingenieurin ist die Nachhaltigkeitschefin von Thyssenkrupp Steel. "Unser Plan ist, dass wir 2025 unser erstes, mit Wasserstoff reduziertes Produkt aus diesen Anlagen bekommen", sagte Jaroni auf dem "her.summit". Doch auch diese neuen Anlagen kosten Milliarden - und Thyssenkrupp weiß noch nicht, wie viel staatliche Hilfe die EU erlauben wird. "Im Grunde müssen wir jetzt loslegen", sagt Maroni, "denn sonst kommen wir nie an." Das sei auch eine soziale Frage: zu zeigen, dass energieintensive Industrien nicht abwandern müssen, sondern sich verändern können.
Strom in Deutschland werde im Vergleich zu anderen Weltregionen immer verhältnismäßig teuer bleiben, sagte Katherina Reiche, Chefin des großen Netzbetreibers Westenergie, auf dem "her.summit". In Staaten mit mehr Flächen für erneuerbare Energien, mehr Wind oder Sonnenschein näherten sich die Produktionskosten für eine Kilowattstunde Strom 1,5 Cent an, rechnet Reiche vor und nennt beispielsweise Chile oder Saudi-Arabien. Das ist ein Bruchteil des Preises in Deutschland. Auch Sopna Sury von RWE geht davon aus, dass Deutschland "langfristig sicherlich 80 Prozent des Wasserstoffs importieren" werde. Die Bundesrepublik sei eben weder Texas noch Australien, sagt die Managerin: "Wir haben keine riesigen brachen Flächen."