Vier Szenarien zur ESM-Entscheidung:Wie das Karlsruher Urteil Europa verändern kann

Noch ist offen, wie das Bundesverfassungsgericht am Mittwoch im Streit um den Euro-Rettungsschirm ESM entscheidet. Die Szenarien reichen von einem "Ja" ohne Auflagen über ein "Ja, aber" bis zu einem deutlichen "Nein". Die Regierungen in Berlin und anderen Euro-Staaten wappnen sich für alle Fälle.

Cerstin Gammelin, Brüssel, Wolfgang Janisch, Karlsruhe, und Claus Hulverscheidt, Berlin

Mehr Mitsprache für den Bundestag. Klare Obergrenzen in Haftungsfragen. Oder gar ein Volksentscheid über das Grundgesetz. Viel wird derzeit spekuliert über die Entscheidung des Verfassungsgerichts zum Rettungsschirm ESM, die am Mittwoch verkündet werden soll.

So oder so - es ist ein historischer Richterspruch zu erwarten, womöglich der wichtigste in der gesamten Euro-Krise. Die Süddeutsche Zeitung stellt vier Szenarien und deren mögliche Folgen vor.

Szenario eins: Keine Einwände

Die einfachste Möglichkeit wäre, dass Karlsruhe den ESM und den Fiskalpakt einfach unbeanstandet lässt. Eine Variante, die freilich nach dem Verlauf des Verfahrens ziemlich unwahrscheinlich ist. Den ganzen Tag über hatten die Richter des Zweiten Senats am 10. Juli verhandelt, und ihr nicht erlahmender Fragebedarf richtete sich vor allem auf den ESM: Wie hoch ist das Haftungsrisiko, wie steht es mit der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Bundestags? Der Umstand, dass sich das Gericht für das Eilverfahren mehr Zeit erbeten hat, deutet ebenfalls eher auf Bedenken hin. Dennoch: Da das Gericht nur ungern in eine politisch und ökonomisch geprägte Materie eingreift, ist auch ein vorbehaltloses Ja denkbar.

Für Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihre EU-Amtskollegen wäre ein solcher Richterspruch natürlich der Idealfall. Der ESM kann endlich seine Arbeit aufnehmen, gleichzeitig werden überall in Europa Schuldenbremsen in den nationalen Verfassungen oder Haushaltsgesetzen verankert. Die Hängepartie der letzten Monate, die die Kreditaufnahme für Staaten wie Italien und Spanien noch zusätzlich verteuert hatte, wäre beendet.

Das dürfte auch auf den Finanzmärkten für mehr Ruhe sorgen, zumindest so lange, wie die Regierungen keine neuen Grundsatzdebatten anzetteln, etwa über eine Aufstockung des ESM oder eine unbegrenzte Finanzierung des Fonds über die Europäische Zentralbank (EZB). Gleichzeitig wäre der Weg frei für das geplante Anleihekaufprogramm der EZB. Es soll dazu beitragen, die Zinslast für finanzschwache Staaten auf den Finanzmärkten zu reduzieren. Die Zentralbank hat Hilfen allerdings an die Auflage geknüpft, dass das betroffene Land einen offiziellen Hilfsantrag an den ESM richtet.

Auch innenpolitisch wie innerkoalitionär würde der Druck auf Merkel nachlassen. Während sie sich nämlich in den vergangenen zwei Jahren zumeist auf die SPD und die Grünen verlassen konnte, wirft ihr eine kleine, aber lautstarke Gruppe um die Koalitionsabgeordneten Frank Schäffler (FDP), Peter Gauweiler (CSU) und Klaus-Peter Willsch (CDU) permanent Rechtsbruch vor. Das ist für die Kanzlerin auch deshalb nicht ungefährlich, weil es in beiden Regierungsfraktionen eine zweite, größere Gruppe gibt, die inhaltlich mit den Dissidenten sympathisiert und Merkel nur aus Loyalität oder übergeordneten politischen Überlegungen die Treue hält. Ihnen allen wären bei einer positiven Entscheidung des Verfassungsgerichts die Sorgen, zumindest aber der Wind aus den Segeln genommen.

Szenario zwei: Bedingtes Ja

Dass das Gericht Auflagen erteilt, ist im Verfahren rund um das Thema Europa immer eine wahrscheinliche Prognose. Diesmal ist das rechtstechnisch aber nicht ganz einfach, denn die Beteiligungsrechte des Bundestags scheinen weitgehend gewahrt zu sein. Und die im Gericht so beliebte "verfassungskonforme Auslegung" - also eine verbindliche Vorgabe zur Interpretation zweideutiger Vorschriften - funktioniert bei völkerrechtlichen Verträgen nicht, weil ein deutsches Gericht ja nicht den anderen Vertragsstaaten eine verbindliche Lesart vorgeben kann.

Daher könnte das Gericht völkerrechtliche Vorbehalte fordern: Der Bundespräsident müsste dann erklären, dass die Verträge nur unter Vorbehalt ratifiziert würden, wie es auch die Euro-Kritiker fordern. Wichtigster Punkt: Deutschland soll verbindlich klarstellen, dass sein Anteil am Rettungsschirm tatsächlich auf 190 Milliarden Euro begrenzt bleibt. Zwar begrenzt Artikel 8 des ESM-Vertrags die Haftung eines jeden Mitglieds "unter allen Umständen" auf seinen Kapitalanteil. Artikel 25 indes sieht einen "erhöhten Kapitalabruf" vor, falls einzelne Zahlerländer ausfallen. Juristische Wortklaubereien, die aus der 190-Milliarden-Grenze doch noch das viel zitierte Fass ohne Boden machen könnten, sollen aber aus Klägersicht von vornherein ausgeschlossen werden.

Innenpolitisch könnte Merkel eine solch klare Haftungsbegrenzung durch das Verfassungsgericht durchaus nutzen, da es dem Argument ihrer Kritiker zuwiderläuft, Deutschland müsse am Ende ohne jede Begrenzung für die Schuldenpolitik der Südeuropäer einstehen. Im Ausland hingegen werden die strikten Regeln für die Mitsprache des Bundestags bei europäischen Rettungsaktionen schon heute kritisch beäugt. Kein anderes nationales Parlament in der EU, so das Argument, habe einen so weitreichenden Einfluss wie das deutsche.

Zudem sehen die Kritiker die Gefahr, dass geplante Hilfsmaßnahmen wegen des Vetorechts der Bundestagsabgeordneten verzögert, blockiert oder ad absurdum geführt werden könnten. Das gelte vor allem für Geschäfte des ESM, die unmittelbare Auswirkungen auf die Kursentwicklung an den Finanzmärkten hätten und deshalb ebenso rasch wie geräuschlos abgewickelt werden müssten. Würden die Rechte des Parlaments nun noch weiter ausgedehnt, könnte das am Ende die Handlungsfähigkeit des ESM behindern.

Zudem würden sich die in vielen EU-Ländern bestehenden Vorbehalte gegen die Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts weiter festigen. Wie kann es sein, so fragt man sich vielerorts, dass ein einzelnes Gericht Entscheidungen durchkreuzen kann, auf die sich 17 Regierungen nach zähem Ringen verständigt haben? "Wenn sich das Bundesverfassungsgericht permanent querstellt", so erklärte einmal der Regierungschef eines südeuropäischen Landes im kleinen Kreis, "dann muss man halt andere Richter nach Karlsruhe schicken." An der kleinen Episode sehe man, so erzählte später ein anderer Gesprächsteilnehmer, "wie grundsätzlich unterschiedlich die Völker Europas in Wahrheit ticken".

Szenario drei: Recht zur Kündigung

Heftig umstritten in der Diskussion um ESM und Fiskalpakt war zudem die Frage, ob die Verträge kündbar sind. Die Vertragstexte enthalten keine Kündigungsklausel - weshalb die Kritiker der Rettungsbemühungen Deutschland auf Dauer in einem Haftungsmechanismus gefangen sehen, den sie auch bei veränderten politischen Mehrheiten nicht verlassen können.

Gleiches gilt für die Sparvorgaben im Fiskalpakt: Zwar hat sich Deutschland per Verfassung selbst eine Schuldenbremse verordnet. Sollte der Gesetzgeber aber dereinst davon abrücken wollen, dann wären ihm - so monieren die Kritiker - völkerrechtlich die Hände gebunden. Deshalb hat Kläger-Anwalt Dietrich Murswiek auch in diesem Punkt einen Vorbehalt gefordert: Deutschland müsse das Recht zur ordentlichen Kündigung haben.

Ob das Gericht dem folgt, steht dahin. Denn eines werden die Richter der Bundesregierung schon zugestehen müssen: Dass die politische und ökonomische Wirksamkeit von ESM und Fiskalpakt auch von ihrer Verbindlichkeit abhängt - und die wäre mit der Möglichkeit zum jederzeitigen Austritt geschwächt. Hinzu kommt: Nach Artikel 62 der Wiener Vertragsrechtskonvention sind völkerrechtliche Verträge auch ohne entsprechende Klausel kündbar - wenn auch nur bei einer "grundlegenden Änderung" der Umstände. Denkbar wäre also: Karlsruhe hält eine Kündigungsklausel für entbehrlich und vertraut auf den politischen Prozess. Wenn ein mächtiges Land wie Deutschland sich von den Verträgen lösen will, wird es einen Weg finden.

Eine Kündigungsklausel für die Schuldenbremse wäre für Bundeskanzlerin Angela Merkel eine peinliche Niederlage. Sie war es persönlich, die in Brüssel unermüdlich dafür warb, eine Schuldenbremse nach deutschem Vorbild in nationales Recht aufzunehmen, und zwar verpflichtend und unwiderruflich. Es müsse verhindert werden, dass jede neu gewählte Regierung die Schuldenbremse wieder aufkündigen könne, erklärte Merkel.

Die Idee stieß unter den europäischen Staats- und Regierungschefs nicht unbedingt auf ungeteiltes Wohlwollen. Erst als Berlin darauf bestand, vertraglich zu fixieren, dass nur Euro-Länder mit Schuldenbremse auch damit rechnen können, im Notfall Kredite aus dem Euro-Rettungsfonds zu bekommen, unterschrieben 25 Länder den Fiskalpakt - Großbritannien und Tschechien blieben außen vor. Sollte ausgerechnet Berlin jetzt auf einem Kündigungsrecht bestehen, sähen sich viele der damaligen Kritiker bestätigt, die ohnehin nicht viel von den strikten Sparauflagen und den damit verbundenen Sanktionen halten.

Grundsätzlich würde das Recht, den Pakt aufkündigen zu können, auch die Idee der Euro-Retter untergraben, wonach Fiskalpakt und ESM nur zusammen ihre heilende und vorbeugende Wirkung entfallen können. Der ESM überbrückt mit Hilfskrediten zeitlich befristet finanzielle Nöte klammer Euro-Länder. Die Regierungen reformieren ihr Land in diesem Zeitraum. Danach verhindert die Schuldenbremse, dass die Misswirtschaft von vorne beginnt.

Szenario vier: Kategorisches Nein

Traut sich das höchste Gericht, den Rettungsschirm zu stoppen? Prinzipiell hat das Gericht zwar keine Angst vor den kostspieligen Konsequenzen, allerdings wurde nach den Entscheidungen beispielsweise zur Steuerentlastung von Familien oder zu den Hartz-IV-Leistungen mit Millionen gerechnet, nicht mit Milliarden. Die Linie des Gerichts in Sachen Europa spricht jedenfalls gegen ein apodiktisches Nein: Seit Jahrzehnten wacht es mit Argusaugen über den Einigungsprozess und hat zahlreiche Vorgaben zur Bewahrung von Demokratie und Rechtsstaat gemacht - doch am Ende hat es im Grundsatz immer Ja gesagt.

Auch, weil es nicht zu tief in politische Grundsatzfragen eingreifen will, die in diesem Fall zusätzlich mit komplexen ökonomischen Problemen durchwirkt sind. Hinzu kommt: Das Gericht ist seit jeher auf die Akzeptanz auch der Bevölkerung angewiesen, die es durch ein Urteil mit unabsehbaren Konsequenzen womöglich verspielen würde. Deshalb ist ein Nein aus Karlsruhe die unwahrscheinlichste Variante.

Geschieht das Unerwartete doch, muss das bisherige Konzept der Euro-Länder, mit dem sie ihre Währung stabilieren wollen und das maßgeblich auf deutschen Ideen beruht, als gescheitert gelten. Ein Nein hätte enorme politische und wirtschaftliche Auswirkungen. Die Euro-Zone würde weltweit an Ansehen und unter ihren Partnern an Vertrauen verlieren. Es wäre der Anfang vom Ende der gemeinsamen Währung. Viele Anleger, die bisher noch Staatsanleihen der Euro-Länder gekauft haben oder in ihren Depots halten, würden die Papiere loswerden wollen oder nicht mehr kaufen. Spanien und Italien könnten die Folgen schnell spüren - wenn die Regierungen keine Käufer für ihre Papiere mehr finden und sie ihre Schulden nicht mehr bedienen können, was in letzter Konsequenz zur Zahlungsunfähigkeit führen würde.

Obwohl niemand in Europa damit rechnet, dass die deutschen Richter das Euro-Rettungskonzept kippen, hat sich die Euro-Zone auf alle Eventualitäten vorbereitet und in den letzten Tagen eine Art Notfallnetz aufgespannt. Stünden Spanien und Italien oder andere Euro-Länder infolge unerwarteter Schwierigkeiten vor akuter Geldnot, könnten sie einen Antrag auf finanzielle Hilfen aus dem provisorischen Euro-Rettungsfonds EFSF stellen. Dieser einst mit 440 Milliarden Euro an Kreditvolumen ausgestattete Fonds verfügt abzüglich der an Irland, Portugal, Griechenland und Spanien ausgezahlten und versprochenen Gelder noch über rund 148 Milliarden Euro.

Das ist sicher zu wenig, um die dritt- und die viertgrößte Volkswirtschaft im Euro-Klub vor der Pleite zu retten - aber hinter dem EFSF steht ja seit Donnerstag vergangener Woche die Europäische Zentralbank (EZB) mit ihrer Zusage, unter bestimmten Voraussetzungen unbegrenzt Staatsanleihen klammer Euro-Staaten zu kaufen. Dass die EZB ihre Zusage eine Woche vor der ESM-Entscheidung gegeben hat, ist vor allem ein wichtiges Signal an Verbündete und Anleger - seht her, wir sind vorbereitet auf alle Eventualitäten. Trotzdem gilt: Ohne ESM wird es nicht gelingen, den Euro zu retten. Der EFSF darf Mitte 2013 keine neuen Hilfen mehr ausgeben. Der ESM hingegen ist auf unbefristete Zeit angelegt und groß genug, um den Euro zu sichern.

Linktipp: Wie wird das Bundesverfassungsgericht am Mittwoch zum ESM entscheiden? Die Finanzbranche rät und scherzt auf Twitter unter #GermanCourtGuesses.

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