Kommentar:Führen nach Lehnsherrenart

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Die Gründung eines Betriebsrats bei Amazon haucht den US-Gewerkschaften neuen Atem ein. Doch die Widerstände bleiben groß - auch bei deutschen Arbeitgebern in den Vereinigten Staaten.

Kommentar von Claus Hulverscheidt, Berlin

Amazon-Mitarbeiter in einem Logistikzentrum in New York stehen Schlange für die Betriebsratswahl. (Foto: REUTERS)

Geregelte Arbeitszeiten, 18 Dollar Stundenlohn, im Winter Heizung, im Sommer Klimaanlage, dazu ein Management, das den "direkten Dialog" mit der Belegschaft sucht - wer, bitteschön, braucht da noch eine Gewerkschaft? Fast drei Jahrzehnte lang ist es dem Handelsriesen Amazon mit dieser zynisch-paternalistischen Attitüde gelungen, in seinem Heimatland USA die Gründung jedweder Arbeitnehmervertretung zu verhindern. Doch damit ist es nun vorbei: Die Beschäftigten eines Logistikzentrums in New York sprachen sich mehrheitlich dafür aus, eine Art Betriebsrat zu gründen, der den schlichten Namen Amazon-Gewerkschaft trägt, kurz: ALU.

Es ist ein Triumph, wie er lange kaum vorstellbar erschien und der deshalb weit über den konkreten Fall hinaus Signalwirkung hat. Denn er haucht einer Bewegung neuen Atem ein, die nach Jahrzehnten des Siechtums als klinisch tot galt.

Nur noch jeder zehnte US-Beschäftigte ist Mitglied einer Gewerkschaft, und selbst diese Zahl vermittelt noch ein grob verzerrtes Bild: In Privatbetrieben, der übergroßen Mehrheit der Firmen, nämlich beträgt der Wert gerade einmal sechs Prozent, weil dem Land mit dem Wandel hin zum Dienstleistungs- und Finanzkapitalismus die Industriebetriebe und damit auch die Gewerkschaftsmitglieder abhandengekommen sind. Nur der öffentliche Dienst kommt mit 34 Prozent auf einen Organisationsgrad, der altgedienten Gewerkschaftern Respekt einflößt.

Dass der Erfolg bei Amazon jetzt möglich wurde, hat zunächst firmeninterne Gründe: Der Konzern zahlt zwar besser als andere, steht wegen harscher Arbeitsbedingungen, der Überwachung der Mitarbeiter, Mängeln beim Gesundheitsschutz und vieler anderer Vorwürfe aber immer wieder in der Kritik. Wer zu wenig leistet oder Missstände anprangert, wird nicht selten gefeuert. Für die New Yorker Lagerarbeiter war das Maß jetzt voll - bedingt auch durch die Corona-Pandemie, die ihnen, wie den Beschäftigten anderer Branchen, ihre Systemrelevanz erstmals vor Augen geführt und ihr Selbstbewusstsein gesteigert hat. Und dann ist da schließlich die extrem niedrige US-Arbeitslosenquote von gerade noch 3,6 Prozent, die vielen Arbeitnehmern die Angst vor einem Rauswurf genommen hat. Wer seinen Job verliert, hat oft binnen Tagen einen neuen, oft sogar besseren.

Für die US-Arbeitnehmer werden mitnichten goldene Zeiten anbrechen

Und doch: Zu glauben, dass für die US-Beschäftigten nun goldene Zeiten anbrächen, wäre naiv. Da ist der Krieg in der Ukraine, der die gute Arbeitsmarktlage rasch zunichtemachen kann. Und da sind die traditionellen Widerstände gegen Gewerkschaften, die in den USA noch viel größer sind als in Europa, wo Arbeitnehmerorganisationen bekanntlich ebenfalls Mitgliederschwund verbuchen. Zudem haben US-Firmen zahllose Möglichkeiten, Gewerkschaftsaktivisten im Betrieb zu diffamieren, unter Druck zu setzen und rauszuwerfen oder gar ganze Werke zu schließen, wenn sich Arbeitnehmer von Gründungsplänen nicht abbringen lassen. Selbst bei Gesetzesverstößen droht den Unternehmen oft kaum mehr als eine lächerlich geringe Geldbuße.

Hinzu kommen der ausgeprägte amerikanische Individualismus, der die bettelärmsten Scheinselbständigen zu Heroen unternehmerischer Freiheit verklärt, sowie Konzernchefs, die den Turnschuhe tragenden, Joint rauchenden Kumpeltypen mimen, während sie als knallharte Kapitalisten ein oft toxisches, männerdominiertes Arbeitsumfeld schaffen. Protagonisten dieser Spezies sind libertäre Geister wie Elon Musk, die übers Firmengelände wandeln, lehnsherrengleich Gunst verteilen und entziehen und Parlamente, Behörden, Regeln und Gesetze als pure Geschäftshemmnisse verachten - von Betriebsräten ganz zu schweigen. Solange hier kein grundlegender Kulturwandel stattfindet, hat die Idee einer Kollektivierung von Arbeitnehmerinteressen in den USA keine echte Chance.

Die wenigsten - nämlich praktisch gar keine - Gewerkschaftsmitglieder gibt es USA-weit übrigens in South Carolina. Da möchte natürlich auch der größte Industriearbeitgeber des Bundesstaats nicht aus der Reihe tanzen und verzichtet auf Betriebsräte - obwohl er es von daheim doch eigentlich anders kennt: BMW.

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