Straßenverkehr:Die Revolution in Deutschlands Städten kommt

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Berufsverkehr auf der A3 in Nordrhein-Westfalen. Lange war der Verkehr vor allem auf Autos ausgerichtet. (Foto: Jochen Tack/imago images)

Das Kabinett möchte das Straßenverkehrsgesetz ändern. Das hätte riesige Auswirkungen - denn die Novelle verschiebt die Prioritäten.

Von Michael Bauchmüller, Berlin

Der Kaiser weilte in seiner Sommervilla auf Korfu, als er im Mai 1909 seine "höchst eigenständige Unterschrift" samt kaiserlichem Insiegel leistete: "Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser." So nahm das Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen seinen Anfang. Jenes Gesetzeswerk, auf dem bis heute das deutsche Straßenverkehrsgesetz aufbaut, und damit wiederum die Straßenverkehrsordnung. Natürlich ist seither kaum mehr ein Stein auf dem anderen geblieben. Aber ein paar Dinge haben sich doch erstaunlich lang gehalten.

1937 etwa fanden jene zwei Prämissen Eingang in das deutsche Straßenverkehrsrecht, die bis heute viele Vorgaben prägen: die "Sicherheit und Leichtigkeit" des Verkehrs. Über Jahrzehnte war damit vor allem die Leichtigkeit des motorisierten Straßenverkehrs gemeint. Der hatten sich andere, auch Fußgänger und Radfahrer, im Zweifel unterzuordnen. Gemessen daran ist der kurze Gesetzesentwurf, der an diesem Mittwoch das Bundeskabinett passieren soll, so etwas wie die Vorstufe einer Revolution.

Denn die zwei Seiten kurze Novelle verlangt von künftigen Vorgaben für den Straßenverkehr, dass sie nicht mehr nur der "Sicherheit und Leichtigkeit" dienen, sondern auch der "Verbesserung des Schutzes der Umwelt, des Schutzes der Gesundheit oder der Unterstützung der städtebaulichen Entwicklung". Kurzum: Die Städte bekommen ganz neue Freiräume.

"Wenn das Gesetz in der Form verabschiedet wird, sind wir einen ganz wichtigen Schritt gegangen", sagt Roman Ringwald, Verkehrsrechtler bei der Kanzlei Becker Büttner Held. "Es erkennt endlich an, dass diese Ziele auch wichtig sind." Christian Hochfeld, Chef des Berliner Thinktanks Agora Verkehrswende, macht gar "einen Paradigmenwechsel" aus, der sich auf dieser Grundlage bewerkstelligen lasse. "Hunderte Städte und Gemeinden haben auf diesen Modernisierungsschub gewartet, zum Beispiel bei der Einrichtung von Busspuren und Radwegen", sagt Hochfeld.

Nun gebe es erste Anzeichen für ein Umdenken, sagt ein Experte

Wie es bisher lief, lässt sich in Berlin gut besichtigen. Im Stadtteil Zehlendorf, auf der zweispurigen Clayallee, hatte der Senat 2021 eine Busspur einrichten wollen. Anwohner klagten dagegen - und bekamen recht. Das Verwaltungsgericht orientierte sich unter anderem an der Frage, ob durch die neue Busspur eine "unverhältnismäßige Zurücksetzung der Belange des Individualverkehrs" zu erwarten sei - so kam die Leichtigkeit des Verkehrs ins Spiel. Zu Stoßzeiten müssten mindestens 20 Busse pro Stunde die Spur nutzen, damit sie zu rechtfertigen ist. 20 Busse allerdings, die im Zweifel zu Stoßzeiten auch gar nicht durchkommen. Umweltbelange jedenfalls spielten bei der Frage keine große Rolle - wie bisher auch im Gesetz.

Auch die Einrichtung von verkehrsberuhigten Zonen, die Aufstellung von Tempo-30-Schildern, die Ausweisung von Radwegen oder die Bewirtschaftung knappen Parkraums wird einfacher, wenn Städte und Gemeinden nicht mehr befürchten müssen, an der Leichtigkeit des Verkehrs abzuprallen. "Für die Mobilität der Zukunft in unseren Städten gilt es, vieles zusammenzudenken", sagt Helmut Dedy, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages. Klimaziele, Verkehrssicherheit, Lebensqualität, Gesundheitsschutz und Stadtentwicklung gehörten dazu. "Städte müssen diese unterschiedlichen Aspekte gegeneinander abwägen", sagt Dedy. "Dafür gibt es aber keine Blaupause, es hängt sehr stark von der konkreten Situation vor Ort ab."

Nötig seien deshalb zusätzliche Freiheiten. Der Gesetzentwurf lasse "erste Anzeichen für ein Umdenken erkennen" und gehe für die Städte in die richtige Richtung, sagt der Städtetags-Chef. Und auch die Radfahrer-Lobby ADFC freut sich auf "einen guten Tag für die Verkehrswende vor Ort", sollte der Gesetzentwurf diesen Mittwoch das Kabinett passieren.

"Viele möchten neue Verkehrskonzepte ausprobieren"

Damit allerdings ist erst ein Anfang gemacht. Auch Bundestag und Bundesrat müssen der Novelle zustimmen. Und die Länderkammer dürfte bei einem Gesetz, das ihre Städte und Gemeinden betrifft, gern mitreden wollen. Den Städten reicht noch nicht, dass sie auch Fahrspuren "zur Erprobung neuer Mobilitätsformen" einrichten können - sie möchten auf diesen Spuren mehr als nur Erprobung, sie wollen dort die Zukunft verkehren lassen. "Viele möchten neue Formen der Verkehrslenkung und neue Verkehrskonzepte ausprobieren", sagt Dedy. Doch der gesetzliche Rahmen gebe das bisher einfach noch nicht her.

Zumal letztlich über das, was auf deutschen Straßen passiert oder nicht passiert, nicht das Straßenverkehrsgesetz, sondern die Straßenverkehrsordnung entscheidet, kurz StVO. Das Gesetz ist gewissermaßen die Mutter dieser Ordnung. Es ermächtigt das Verkehrsministerium, sie mit Zustimmung des Bundesrats zu erlassen. Bisher ist auch die StVO noch vor allem auf die Leichtigkeit des Verkehrs ausgerichtet und müsste entsprechend geändert werden.

Wie ernst es dem Bund mit den neuen Freiheiten ist, dafür hat Verkehrsrechtler Ringwald schon sein Frühwarnsystem eingerichtet. Es findet sich in Paragraf 45, Absatz 9, Satz 1 der Straßenverkehrsordnung: "Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen", steht da, "sind nur dort anzuordnen, wo dies aufgrund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist." Ob so ein Passus geändert werde oder nicht, sei der "Lackmustest", sagt Ringwald. "Daran muss man einen Entwurf der StVO messen." Schließlich heiße das, dass sich alles anordnen lasse, wenn es nur zwingend nötig sei, schließt der Jurist. "Mit anderen Worten: im Zweifel nicht."

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