Wie groß die Bedeutung einer schlechten Nachricht ist? Im Berliner Regierungsviertel hat sich da über die Jahre ein so zuverlässiger wie zeitraubender Gradmesser entwickelt: Sicheren Aufschluss gibt die Dauer des Drumherumredens bei Auftritten, bevor das eigentliche Problem benannt wird. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) rang am Dienstag hörbar mit einem ziemlichen Ärgernis, sprach eine gefühlte Ewigkeit über Klimaziele und Elektroautos. Erst nach mehr als 20 Minuten kam er zum eigentlichen Kern seiner Pressekonferenz. Dann räumte Altmaier ein: Die Regierung hat sich beim künftigen Stromverbrauch der Deutschen verkalkuliert. Und zwar deutlich.
Bei der Pressekonferenz im Wirtschaftsministerium wurde das Ausmaß der Fehlprognose klar. Wegen der verschärften Klimaziele rechne die Regierung mit einem um mehr als zehn Prozent höheren Stromverbrauch bis 2030. Eine neue Studie im Auftrag des Ministeriums erwarte einen Verbrauch von 645 bis 665 Terawattstunden, erklärte der CDU-Politiker am Dienstag in Berlin. Die vorherige Studie des Prognos-Instituts von Anfang 2020 hatte noch 590 Terawattstunden genannt. Die offizielle Regierungsprognose lag sogar nur bei 580 Terawattstunden.
Altmaier führt die Korrektur etwa auf den schnellen Ausbau der Elektromobilität im Straßenverkehr zurück. Die Regierung rechnet nun mit bis zu 14 Millionen E-Autos 2030 auf deutschen Straßen. Bislang waren höchstens zehn Millionen erwartet worden. Zudem würden etwa sechs Millionen Wärmepumpen in Gebäuden installiert, die ebenfalls mehr Strom benötigten. Einen starken Anreiz bildeten dafür die von Union und SPD, aber auch von weiteren Parteien in den Wahlprogrammen verankerten Entlastungen beim Strompreis.
Wie groß die Lücke an erneuerbaren Energien genau ist, ist unklar
Allerdings kommt die Entwicklung nicht überraschend. Denn die Regierung selbst hatte vor einem Jahr hohe Kaufprämien für E-Autos ausgelobt, um genau diesen Zuwachs auszulösen. Schon seit Längerem hatte Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) auch deshalb vor falschen Erwartungen gewarnt und die Annahme höherer Verbrauchswerte beim Strom empfohlen. Auch die Stromwirtschaft hatte im Juni eine eigene Vorhersage veröffentlicht und kam sogar auf 700 Terawattstunden. Der Finanzminister hatte sich ebenfalls in den Streit eingeschaltet: "Wer behauptet, dass der Stromverbrauch bis 2030 gleich bleibt, belügt sich selbst und das Land", hatte SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz kritisiert.
Für die Bundesregierung wird die Korrektur zum Problem, weil sie eine ernste Gefahr für das Erreichen ihrer Klimaziele werden könnte. Die sehen vor, dass 2030 rund 65 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien kommen müssen. Da die Deutschen dann aber deutlich mehr Strom verbrauchen werden, wird auch mehr grüner Strom gebraucht. Zusätzlich verschärft die Europäische Kommission die Klimaziele weiter. Das dürfte den Bedarf an grünem Strom noch mehr erhöhen. Die bisherigen Ausbauziele reichen damit nicht mehr aus. Die Bundesregierung muss den Ausbau der erneuerbaren Energien massiv beschleunigen.
Wie groß die Lücke genau ist und wie sie nun binnen weniger Jahre geschlossen werden soll, blieb am Dienstag zunächst offen. Altmaier kündigte an, nach der nun vorliegenden vorläufigen Prognose erst die endgültige Berechnung abzuwarten. Sie soll im September vorliegen. Doch die Lücke dürfte groß sein. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im März zu mangelndem Klimaschutz in Deutschland hatte die Bundesregierung verkündet, die CO₂-Emissionen um 65 Prozent gegenüber dem Niveau des Jahres 1990 zu senken. Zuvor lag das Ziel bei 55 Prozent. Schon diese Verschärfung war in den Ausbauzielen für grünen Strom bisher noch nicht berücksichtigt worden.
Der Wirtschaftsminister hält "ein, wenn nicht zwei" zusätzliche große Stromtrassen für nötig
Altmaier machte am Dienstag bereits klar, dass deutlich mehr Windräder, Solaranlagen und auch Stromtrassen gebraucht würden. Nötig sei ein noch größerer Ausbau von Solaranlagen auf Dächern und Freiflächen sowie der sogenannten Offshore-Windkraft auf See, erklärte der Minister. Neben den bereits geplanten drei neuen Stromautobahnen hält Altmaier zudem "ein, wenn nicht zwei" zusätzliche große Stromtrassen für nötig. Nun müssten auch Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigt und etwa Investitionszuschüsse für Solaranlagen gezahlt werden, forderte Altmaier und mahnte beim Umweltministerium Änderungen von Umwelt- und Artenschutzbestimmungen an. Angesichts von Problemen bei der Akzeptanz von Stromtrassen und Windanlagen drohen damit in Deutschland wohl erneut heftige Debatten um den Ausbau des grünen Stroms.
Auch die Energiebranche forderte am Dienstag deutlich mehr Engagement. "Dass wir mehr Tempo beim Erneuerbaren-Ausbau brauchen, dürfte allen klar sein", sagte BDEW-Chefin Kerstin Andreae. Es müssten endlich die Hemmnisse für Wind an Land beseitigt und ein Solar-Boom ausgelöst werden. "Jetzt ist es wirklich unübersehbar: Der von der Koalition gedeckelte Ausbau der Erneuerbaren reicht vorne und hinten nicht, um die Klimaziele zu erreichen", warnte die Grünen-Politikerin Julia Verlinden.
Altmaier kündigte derweil an, er wolle noch vor der Wahl im September in der Bundesregierung einen Konsens finden, wie mit den Ergebnissen umzugehen sei. Dies könne dann Entscheidungsgrundlage für Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl im Herbst sein. Eins ist für Altmaier allerdings schon jetzt klar: Die korrigierte Prognose werde wohl auch die künftige Bundesregierung "in erheblichem Umfang beschäftigen".