Vor einigen Monaten soll sich ein Fall in Hamburg zugetragen haben, der nun die Justiz beschäftigt. Ein Ladenbesitzer habe einen Polizisten "Schülerlotse" genannt, so der Vorwurf des Beamten. Was folgte: Anklage wegen Beleidigung, die Staatsanwaltschaft ermittelte, bald geht das Strafgerichtsverfahren los.
Hätte sich diese Episode im Internet zugetragen, wäre das Opfer statt Polizist irgendeine Frau gewesen, wäre die Beleidigung ein viel böseres Wort oder sogar mit einer Todes- oder Vergewaltigungsdrohung versehen gewesen, wäre der Fall wahrscheinlich anders ausgegangen. Passiert wäre höchstwahrscheinlich: nichts. "Hass im Netz hat meist gar keine Konsequenz, das muss man leider so sagen", sagt Anna-Lena von Hodenberg, die Gründerin der Organisation Hate Aid, die Opfer von Hass im Netz unter anderem mit Prozesskosten-Finanzierung unterstützt.
Eine neue repräsentative Umfrage im Auftrag von Hate Aid und der Alfred-Landecker-Stiftung zeigt: Digitale Gewalt hat in Europa ein massives Ausmaß angenommen. 91 Prozent der jungen Erwachsenen haben bereits mehrmals Hass und Hetze im Internet als Zeuginnen oder Zeugen gesehen. Jede zweite Person in der Altersgruppe von 18 bis 35 Jahren war sogar schon persönlich von digitaler Gewalt betroffen. Über alle Altersgruppen hinweg wurden mehr als zwei Drittel aller Befragten in ihrem Leben mit Hass und Hetze im Internet konfrontiert. Vor allem Frauen sind betroffen und zensieren sich als Konsequenz davon selbst: 52 Prozent der weiblichen Befragten bewegen sich aus Angst vor digitalen Übergriffen zunehmend vorsichtiger und anonymer durch soziale Medien. Aber auch 35 Prozent der Männer lassen sich durch den drohenden Hass einschüchtern. Für die Studie wurden 2021 insgesamt 2000 Personen im Alter von 18 bis 80 Jahren in allen 27 EU-Mitgliedsstaaten befragt.
Doch unerwünschte Nacktbilder im Netz, Beleidigungen oder Vergewaltigungsdrohungen landen nur sehr selten vor Gericht. "Twitter und Facebook sitzen in Irland. Ein Opfer aus Griechenland müsste die Klage auf Englisch formulieren und rechtssicher in Irland zustellen", sagt Hodenberg. "Das ist teuer, das macht kein Mensch." Und die meisten Opfer scheuen auch den Versuch, ihre Rechte direkt gegen die großen Social-Media-Plattformen wie Twitter oder Facebook oder gegen die Pornoplattformen durchzusetzen, auf denen echte oder gefälschte Bilder oder Videos von Frauen häufig gegen deren Willen landen. "Die Hürden sind zu hoch", sagt Hodenberg.
Die EU arbeitet an einer neuen Gesetzgebung
In der Umfrage äußern 80 Prozent der Befragten, dass die Online-Plattformen wie Facebook, Google und Twitter nicht genug für den Schutz vor digitaler Gewalt täten. Mehr als 90 Prozent der Befragten sind dafür, dass gemeldete illegale Inhalte effizienter entfernt werden sollten. 80 Prozent der Befragten wünschen sich Mitsprache darüber, nach welchen Kriterien ihnen Beiträge angezeigt werden. 84 Prozent der Männer und 92 Prozent der Frauen finden, dass zur Kontrolle von Online-Plattformen Gesetze unumgänglich oder zumindest wünschenswert sind.
Dass diese kommen, ist wahrscheinlich - aber noch ist unklar, wie sie aussehen werden. Die Europäische Union wird bald den Digital Services Act dazu verabschieden. Das Europäische Parlament will im Dezember einen Beschluss dazu fassen, am kommenden Dienstag gibt es eine große Anhörung in Brüssel. Vom kommenden Jahr an werden dann der Europäische Rat, die Kommission und das Parlament gemeinsam verhandeln, wie es mit dem Schutz von Nutzerinnen und Nutzern im Netz und den Rechten und Pflichten von Plattformbetreibern weitergehen soll.
Hate Aid beteiligt sich an dem Prozess und will bei den EU-Politikerinnen und -Politikern ein stärkeres Bewusstsein für die Opferseite erreichen. "Die Plattformen haben einen Haufen Geld in Lobbyarbeit in Brüssel gesteckt", sagt Hodenberg. "Sie haben natürlich gar kein Interesse daran, dass Userinnen ihre Rechte besser durchsetzen und zum Beispiel Widerspruch einlegen können. Dazu bräuchten sie bessere Content-Moderatoren, bessere interne Prozesse, und all das kostet Geld." Eine Petition von Hate Aid und etlichen anderen europäischen Organisationen wie #Não Partilhes aus Portugal, Digitalt Ansvar aus Dänemark oder Stop Fisha aus Frankreich hat schon mehr als 10 000 Unterschriften dazu gesammelt. Es geht darum, Frauen vor digitaler Gewalt besser zu schützen, unter anderem mit einer EU-weiten Pflicht, gestohlene Nacktbilder aus dem Netz zu nehmen, und mit einer Anlaufstelle bei den Plattformen in jedem Land, an die sich Opfer in ihrer Sprache wenden können, während sie bislang meist nur automatisierte Standardantworten auf Beschwerden erhalten. "Wir fordern wirklich keine Revolution", sagt Hodenberg. "Es geht um Basisrechte von Nutzerinnen."