Brexit:"Die Briten müssen sich darauf einstellen, künftig mehr Konserven und Tiefgefrorenes zu essen"

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Ein besonders großes Problem dürfte im Fall eines harten Brexit die Lebensmittelindustrie bekommen, sagt Christian Kille. (Foto: REUTERS)

Im Fall eines harten Brexit dürften zahlreiche Firmen Probleme bekommen, sagt Logistik-Professor Christian Kille. Doch auch für die Lebensmittelindustrie könnte es eng werden.

Interview von Harald Freiberger

Der britische Premierminister Boris Johnson will mit allen Mitteln einen harten Brexit ohne Vertrag mit der EU durchsetzen. Was würde das für die Wirtschaft auf der Insel und auf dem Festland bedeuten? Christian Kille, Professor für Logistik an der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt, wertet regelmäßig die Handelsströme zwischen Deutschland und dem Rest der Welt aus. Er sieht große logistische Probleme für viele Unternehmen - und erhebliche Einbußen für die Bürger.

SZ: Herr Kille, sehen Sie noch eine Möglichkeit, einen harten Brexit zu verhindern?

Christian Kille: Es gibt noch Möglichkeiten, aber sie liegen nicht mehr in der Hand der EU. Alles hängt davon ab, ob das britische Parlament in der Lage ist, in den nächsten Wochen zu arbeiten. Wenn nicht, wird es schwierig. Dann wird zum 30. Oktober der harte Brexit kommen - mit allen negativen Folgen.

Was sind die schlimmsten Folgen?

Es gibt keinen freien Warenverkehr mehr zwischen dem europäischen Festland und England. Das heißt, dass an der Grenze Zollauflagen erfüllt werden müssen, die zum einen die Produkte teurer machen und zum anderen die Lieferung verzögern.

Wie wird sich das auf den Warenverkehr auswirken?

Das Erstaunliche ist, dass die Unternehmen den Brexit schon vorweggenommen haben. Der Export von Deutschland auf die britische Insel ist 2018 schon um 11 Prozent zurückgegangen, wenn man die Warenmenge in Tonnen zugrunde legt. Der Import ist sogar um 15 Prozent eingebrochen. Ich erwarte, dass beides in diesem Jahr sogar noch tiefer fallen wird. 2020 dürfte er sich dann auf dem niedrigen Niveau stabilisieren.

Was sind die Motive von Unternehmen, den Handel mit Großbritannien zurückzufahren?

Ihr Hauptproblem ist, dass sie ihre Logistikketten nicht mehr weiterführen können wie bisher. Sie haben auf zwei Arten darauf reagiert: Zum einen wurden in England viele Lager mit Teilen aufgefüllt, um eine Unterbrechung der Lieferkette zu überbrücken. Ein interessantes Beispiel ist die Fertigpizza-Kette Domino's, die Produkte für den Pizzabelag hortet, um auch nach einem Brexit Pizzas herstellen zu können. In England wird gerade jeder Hühnerstall angemietet, um Produkte zu horten. Zum anderen gibt es aber Unternehmen, die England als Produktionsstandort abgeschrieben haben.

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Können Sie ein Beispiel nennen?

Der Automobilhersteller Nissan hat angekündigt, dass er auf der britischen Insel künftig keine Fahrzeuge mehr produzieren wird. Es gibt auch in der deutschen Automobilindustrie entsprechende Pläne. Man redet nur ungern darüber. Ein fiktives Beispiel: Ein Automobilhersteller lässt Motoren in England fertigen. Er bringt die Karosserie auf die Insel, lässt den Motor dort hineinmontieren und verkauft das fertige Auto dann auf dem europäischen Festland. Diese Produktionskette wird durch einen Brexit empfindlich gestört. Deshalb überlegen die Unternehmen, diese Kette anders zu gestalten.

Können Automobilunternehmen nicht mehr Bestände auf Lager legen?

Das ist gerade in dieser Industrie schwierig, weil sie extrem durchgetaktet ist, das Stichwort lautet "Just in time". Die Automobilindustrie produziert hauptsächlich auf Nachfrage, wodurch die notwendigen Komponenten oft nicht bekannt sind, weswegen nichts auf Lager gelegt werden sollte. Schon kurze Verzögerungen führen dazu, dass die Fließbänder stillstehen, mit hohen finanziellen Schäden. Die Unternehmen haben keine Garantie mehr, dass ein Produkt rechtzeitig auf der Insel ankommt, wenn sie es wegschicken. Dieses Risiko wollen sie nicht eingehen. Deshalb verabschieden sie sich lieber vom Produktionsstandort England.

Welche anderen Branchen sind betroffen?

In der chemischen Industrie gibt es ebenfalls starke Einbrüche beim Import auf die und beim Export von der Insel. Relativ stabil ist dagegen der Maschinen- und Anlagenbau, bei dem die Produktion nicht so stark "just in time" ist wie in der Automobilindustrie. Ein großes Problem hat schließlich die Lebensmittelindustrie, besonders was Produkte wie Obst, Gemüse, Frischmilch und Frischfleisch betrifft, die nach wenigen Tagen verderben. Da die Briten solche Nahrungsmittel überwiegend importieren müssen, könnten nach einem harten Brexit breite Landstriche unter versorgt sein.

Aber verhungern müssen die Briten nicht, oder?

Das nicht, aber sie müssen sich darauf einstellen, künftig mehr Konserven und Tiefgefrorenes zu essen.

Haben Sie Verständnis dafür, was in der britischen Politik gerade passiert?

Ich verstehe, dass es in der britischen Bevölkerung Skepsis gegenüber der Globalisierung und gegenüber offenen Grenzen gibt. Das ist in manchen abgehängten Regionen auf dem Festland ja auch nicht anders. Aber ich verstehe nicht, wie die Politiker dort damit umgehen. Ein guter Landesvater muss sich darum kümmern, seine Bevölkerung gut zu versorgen. Dafür braucht es einen langen Atem. Die britische Politik aber ist geprägt von hysterischem, kurzfristigem Handeln, das dem Land langfristig schaden wird.

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