Kananaskis ist ein verschlafenes Nest in den kanadischen Rocky Mountains. Vor zehn Jahren aber schrieb der winzige Ort Weltgeschichte. Die mächtigsten Staatschefs beschlossen hier bei einem G-8-Gipfel 2002 ein historisches Abrüstungsprogramm. Es galt, eine gigantische Gefahr des Kalten Krieges zu beseitigen: Hunderte Tonnen hochangereichertes Uran und strahlendes Plutonium aus Militärbeständen - Atombomben oder U-Booten etwa. Genug Stoff für zig neue Sprengköpfe und genug Grund, es nie in die falschen Hände gelangen zu lassen. "Wir wären dankbar, wenn unsere Partner bereit wären, uns hierbei zu unterstützen", hatte Russlands Präsident Wladimir Putin damals gesagt.
Eine Bitte, die, wie in diesen Tagen bekannt wird, in Deutschland zu einem höchst brisanten Entsorgungsprogramm führte. Es ist eine verstörende Vorstellung: Immer dann, wenn Bürger Strom verbrauchten - am Herd, Laptop oder Lichtschalter - wurden sie zu atomaren Abrüstern. Über ein Jahrzehnt landete die strahlende Gefahr aus Russland nach Informationen der Süddeutschen Zeitung als Brennstoff im großen Stil in deutschen Reaktoren. So machten hiesige Atommanager ein ganzes Land zu ihrem Handlanger - ohne, dass dessen Bürger davon wussten.
Vertrauliche Dokumente der Atombranche machen klar, welche Dimension das Projekt hatte: Es geht um mindestens 100 Tonnen militärisches Uran. Vertrauliche Papiere führender Atommanager enthüllen einen wüsten Verdacht: Sie sollen geplant haben, die Bundesregierung auszutricksen und mit Abrüstungsplänen längere Laufzeiten durchzuboxen. Von den diskreten Geschäften führen Spuren zu einer weiteren Affäre. In deren Zentrum steht Andrey Bykow. Der umstrittene russische Lobbyist gilt als Schlüsselfigur im Skandal um versickerte Millionen bei Atomgeschäften des Energiekonzerns EnBW.
Bykow und führende deutsche Atommanager halfen Putin offenbar gerne. Den Angaben zufolge setzte die Atomindustrie in den vergangenen zehn Jahren mehr als 1000 Brennelemente ein, die mit militärischem Uran bestückt waren. Bei weiteren 500 gilt dies als sehr wahrscheinlich. Damit wurden sie zum wichtigen Stromlieferanten der Deutschen. Zum Vergleich: Mit 200 Brennelementen lässt sich ein ganzes AKW fünf Jahre befeuern. Und die Aktion ist noch nicht zu Ende. Der Einsatz weiterer 180 Elemente ist geplant.
Die Geschäfte machen endgültig klar, wie Atomwaffen der Atomenergie nutzen. Aus einer Mischung von wiederaufbereitetem Uran aus Westeuropa und höher angereichertem Uran aus Russland wurden bei Moskau Brennelemente hergestellt, die dann in Spezialbehältern per Bahn, Schiff und Lastwagen zu ihren deutschen Bestimmungsorten transportiert wurden - in die Kernkraftwerke Obrigheim und Neckarwestheim (beide EnBW), Brokdorf (Eon), Unterweser (Eon) sowie Gundremmingen (RWE und Eon).
Allein RWE bestätigt auf SZ-Anfrage den Einsatz von 856 Brennelementen und erklärt: "Bei der Fertigung wird aus russischen Militärbeständen stammendes Uran beigemischt." Auch der größte deutsche Energiekonzern Eon bestätigt den Einsatz militärischen Urans. EnBW gibt dagegen lediglich an, ein solcher Einsatz sei möglich. Warum die Atomkonzerne selbst nach Jahren das Schweigen nur sehr zögerlich beenden, verstehen selbst Experten nicht: Die Branche hätte sich für ihr Friedensprojekt feiern lassen können, Fachleute halten den Einsatz in deutschen Meilern technisch für lösbar. Doch die Diskretion könnte ihren Grund haben.
Denn vertrauliche Papiere aus dem EnBW-Konzern legen nahe, dass es Managern beim Thema Abrüstung nicht nur um den Erhalt des Weltfriedens ging: Sie "könnte in Zukunft im politischen Raum eine wichtige Rolle bei der erneuten Diskussion über die Laufzeiten der Kernkraftwerke spielen", heißt es in den Papieren. "Aus diesem Grunde hat RWE mittlerweile auch Interesse am Bezug von Brennelementen aus russischer Fertigung mit militärischem Material bekundet."
Die Papiere ermöglichen tiefen Einblick und decken kaum fassbare Strategien auf: Im Jahr 2001 machten sich Atommanager in Berlin dafür stark, in Zukunft auch den noch gefährlicheren Atombombenstoff Plutonium aus Militärbeständen Russlands in deutschen AKW abzufeuern - gegen den Rat von Umweltschützern und Atomexperten. Man eruierte die politische Lage und resümierte erfreut, die Bundesregierung sei für das Thema grundsätzlich offen. So steht es in einem internen EnBW-Schreiben an Ex-EnBW-Chef Gerhard Goll zur Vorbereitung auf ein Gespräch mit Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) 2001.
Selbst die Grünen hatte die Branche nach eigener Lesart im Griff: "Überraschenderweise gibt es bei den Grünen dank guten Lobbyings durch die richtigen Leute eine vergleichsweise hohe Akzeptanz", schreibt der Chef der EnBW-Kraftwerke AG, Michael Gaßner, an Goll und weiht ihn in ein Geheimnis mit großer Sprengkraft ein: "Die Bundesregierung weiß allerdings nicht, dass die Zeiträume, die benötigt werden, um all das russische Plutonium in Reaktoren zu verbrennen, doch deutlich länger sind, als die 'Restlaufzeiten' des Energiekonsenses, sodass hieraus der Druck auf eine Verlängerung der Laufzeiten entstehen wird."
Es sind Zeilen, die in Berlin für Fassungslosigkeit sorgen dürften: Teile der Wirtschaft glauben nicht nur, die Politik dank ihres Lobbyings im Griff zu haben. Sie enthalten ihr offenbar auch noch hochbrisante Informationen vor, um sie bei einer der wichtigsten politischen Entscheidungen der vergangenen Jahre hinters Licht zu führen, dem Atomausstieg. Selbst Jahre später ist dem EnBW-Konzern zu den Vorgängen nicht mehr als ein Achselzucken zu entlocken: Wie EnBW heute den Versuch bewerte, die Regierung beim Atomausstieg auszutricksen? "Der von Ihnen zitierte Satz ist eine Sachverhaltsdarstellung", lässt EnBW auf SZ-Anfrage wissen. "Wir verwahren uns gegen eine pauschale Unterstellung einer geplanten Täuschung."
Bis heute allerdings lässt man die Bundesregierung über das Ausmaß des Abrüstungsprogramms offenbar im Unklaren. Das Bundesumweltministerium weiß zwar von der Lieferung spezieller Brennelemente aus Russland seit dem Jahr 2000. Für deren Produktion könne auch "hoch angereichertes Uran aus dem militärischen Bereich verwendet werden", vermutet die Behörde. Über mögliche Mengen wisse man jedoch nichts. Ähnlich äußerten sich die zuständigen Landesbehörden. Und das für Abrüstungsabkommen zuständige Auswärtige Amt macht klar, dass die Atomwirtschaft nicht im Auftrag der Bundesregierung handelte: "Ein Abkommen in diesem Bereich wie etwa zwischen Russland und den USA gibt es zwischen Russland und Deutschland nach hiesiger Kenntnis nicht."
Mit keiner Zeile haben die drei AKW-Betreiber Eon, RWE und EnBW die Deutschen bislang über das wahre Ausmaß ihrer brisanten Aktivitäten informiert. Und selbst führende Atommanager blieben außen vor. Auch Vattenfall-Europe-Chef Tuomo Hattaka sagte der SZ, er wisse vom Einsatz von Militäruran in Deutschland nichts. Dabei ist Hatakkas Konzern zu 25 Prozent am Eon-Abrüstungsmeiler Brokdorf beteiligt.
Die Unternehmen weisen den Vorwurf der Geheimniskrämerei dennoch zurück. Als Beleg führen sie eine Presseinformation des Deutschen Atomforums an - vom 16. Mai 2000. In dem Papier ist allerdings nur vom geplanten Einsatz militärischen Urans die Rede. Angaben zur Umsetzung? Fehlanzeige. Und wo die angeblich so öffentliche Mitteilung publiziert wurde, ist offen. Denn selbst im Internetarchiv des Atomforums, das Pressemitteilungen seit 2000 auflistet, sucht man sie vergebens.
Warum also erfuhr die Öffentlichkeit nichts vom Ausmaß der hochsensiblen Geschäfte? Klar ist: Bei den diskreten Abmachungen ging es für die Beteiligten um viel. Vor allem um viel Geld. Brennelemente aus Russland seien für deutsche AKW-Betreiber schlicht billiger gewesen als die aus westlicher Produktion, sagt ein Insider. Und Russland konnte seine strahlende Hinterlassenschaft so auch noch zu Geld machen. Wichtiger Nebeneffekt für Moskau: Brennelemente mit militärischem Uran fielen nicht unter die zeitweise bestehende Einfuhrbeschränkung der Atombehörde Euratom. So konnte Russland schlicht mehr Uran gen Westen verkaufen. Die Verträge wurden zum Milliardengeschäft, von dem deutsche wie russische Firmen und auch der russische Staat profitierten.
Es schafft für Beobachter nicht gerade Vertrauen, dass als Spiritus rector im Fall EnBW der umstrittene russische Lobbyist Bykow gilt. Internen EnBW-Papieren zufolge war es ausgerechnet Bykow, der mit seinem Firmengeflecht große Mengen militärisches Uran über die Schweiz für den Konzern mit Sitz in Karlsruhe beschaffte. Die Staatsanwaltschaft Mannheim interessiert sich für Verträge von EnBW mit Bykow rund um Atomgeschäfte, bei denen rund 130 Millionen Euro versickert sein sollen. Bykow bestreitet rechtswidrige Geschäfte. Der Konzern hat mehrere EnBW-Manager auf viele Millionen Schadenersatz verklagt.
Alles wirklich nur ein ganz normales Geschäft? Schon vor Jahren wurden Prüfer der deutschen Atomindustrie misstrauisch. Ein EnBW-Revisionsbericht aus dem Jahr 2004 zeigt, wie wenig selbst konzernintern über die merkwürdigen Geschäfte bekannt war. "Militärisches Uran wird verwendet", heißt es als Erkenntnis in dem geheimen Papier zu den Hintergründen der Russland-Verbindungen. "Hierbei handelt es sich um Uran sowohl aus militärischem Gerät (z. B. Atom-U-Boote) als auch aus Waffenmaterial der ehemaligen UdSSR." Seit Ende 2000 seien entsprechende Brennelemente im Einsatz.
Eine Industrie wird zum Partner Putins und traut sich dabei selber nicht. Wenn der ehemalige EnBW-Chef Gerhard Goll auf die Abrüstungsgeschäfte angesprochen wird, hat er eine ganz eigene Antwort parat, die tief blicken lässt in einer Branche, die sich offenbar selbst nicht mehr unter Kontrolle hat: "Wir Nicht-Techniker wurden von den eigenen Kernkraft-Leuten gelegentlich dummgehalten", erklärt er heute vielsagend. Und: "Es gab dort ein Eigenleben."