Gas-Lieferstopp:Ökonom warnt vor größter Wirtschaftskrise seit Zweitem Weltkrieg

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Produktion von Babybrei-Gläsern in einer Fabrik in Neuburg: Die Glasherstellung gehört zu den besonders energieintensiven Industrien. (Foto: Thomas Trutschel/imago)

Bleibt russisches Erdgas abrupt aus, bräche die deutsche Wirtschaft stärker ein als in der Corona- und Finanzkrise, zeigt eine Studie. Die sozialen Folgen wären gravierend.

Von Alexander Hagelüken

Wenn kein russisches Gas mehr nach Deutschland kommt, drohte ein größeres Drama als bisher erwartet. Das rechnet jetzt erstmals Tom Krebs von der Uni Mannheim vor. Bleibt das Erdgas abrupt aus, legt das die Industrie demnach so lahm, dass die gesamte Wirtschaftsleistung binnen eines Jahres um bis zu acht Prozent einbräche. Zusätzlich führten höhere Energiepreise dazu, dass die Deutschen weniger einkauften. Damit wäre eine so schwere Rezession wie beim Corona-Ausbruch 2020 oder nach der Finanzkrise 2008 zu befürchten. Aber auch noch Schlimmeres, warnt Krebs: "Es könnte zu einer Wirtschaftskrise führen, wie sie die Bundesrepublik seit dem Zweiten Weltkrieg nicht erlebt hat."

Der Mannheimer Professor hat sich mit Gutachten zum Arbeitsmarkt und zu Klima- und Energiefragen einen Namen gemacht. Jetzt schaltet er sich in die aktuell intensivste Debatte deutscher Ökonomen ein: Was passiert, wenn Europa russisches Gas boykottiert - oder Präsident Wladimir Putin den Hahn abdreht? Krebs rechnet mit einem drastischeren Schaden als seine Kollegen.

Kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hatte ein Forscherteam um Moritz Schularick und Rüdiger Bachmann analysiert, dass ein westliches Gasembargo gegen Putin machbar sei. Das Bruttoinlandsprodukt gehe nur um etwa 0,5 bis drei Prozent zurück. Das wäre höchstens gut halb so viel wie durch Corona- oder Finanzkrise. Die Analyse diente Forschern dazu, ein Gasembargo als handhabbare Sanktion gegen Putins furchtbaren Angriffskrieg zu fordern.

Doch bald rechnete Sebastian Dullien vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung vor, ein Lieferstopp für Gas lasse die deutsche Wirtschaft um sechs Prozent schrumpfen. Das wäre etwas mehr als in der Corona- oder Finanzkrise. Die führenden Konjunkturinstitute beziffern den Einbruch für 2022 und 2023 zusammen auf einen ähnlich hohen Wert, falls das Gas kurzfristig wegbleibt.

Tom Krebs' Studie, die vom gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Institut gefördert wurde, ist noch mal pessimistischer. Allein der Einbruch der Industrie kostet demnach drei bis acht Prozent Wachstum. Dazu befürchtet er noch mehr Unsicherheit und weniger Konsum, weil den Bürgern wegen noch mal teurerer Energie das Geld fehlt: Macht zusätzlich zwei bis vier Prozent weniger Bruttoinlandsprodukt. Käme es zum Schlimmsten, bräche die Wirtschaft zweistellig ein - das hat die Bundesrepublik seit 1945 nicht mehr erlebt.

Fahren Stahl- und Glasindustrie ihre Produktion runter, fehlt anderen Herstellern Material

Krebs' dramatisches Ergebnis kommt auch daher, dass er feststellt, dass ein Gasschock durch die ganze Wirtschaft hallen würde. Erst trifft es energieintensive Industrien wie die Chemie, Glas, Papier oder Stahl, die ihre Produktion herunterfahren müssen. Dadurch aber fehlen auch anderen Branchen wichtige Vorprodukte - den Autoherstellern etwa der Kunststoff, den die Chemie produziert.

Solche Zweitrundeneffekte sind schwer zu beziffern, weil solche Extreme wie ein russischer Gasstopp in einem Krieg selten vorkommen. Krebs hält es für eine Schwäche anderer Studien, dass sie diese Effekte nur teils abschätzen. Er hat daher zum Beispiel die Folgen der Nuklearkatastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima-Daiichi 2011 herangezogen, um die Produktionsausfälle in Deutschland zu berechnen. Insgesamt sieht er seine Ergebnisse im Einklang mit Untersuchungen, die die führenden Konjunkturinstitute oder die Bundesbank vorgelegt haben.

Tom Krebs warnt, dass die sozialen Folgen einer Wirtschaftskrise nach einem Gaskollaps gravierender wären, als es die Corona- oder Finanzkrise waren: "Die deutschen Firmen stehen durch zwei Pandemie-Jahre, durch Lieferprobleme und den Transformationsdruck durch den Klimawandel ohnehin unter Stress." Deshalb drohten Pleiten, die Abwanderung von Produktion und deutlich mehr Arbeitslosigkeit. Außerdem könne die Regierung schlechter gegensteuern, weil sie in der Corona-Krise schon so viel Geld ausgegeben habe. Und die Europäische Zentralbank könne angesichts der Inflation nicht wie sonst üblich die Konjunktur durch Zinssenkungen ankurbeln. Außerdem treffen die Preisschocks bei Energie und Lebensmitteln überwiegend die unteren und mittleren Einkommen, so Krebs: "Dadurch werden soziale Spannungen verschärft werden."

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