Hoffentlich ist es ein Weckruf. Deutschland gehört zu den westlichen Staaten, deren Wirtschaft am meisten unter den Folgen des Ukraine-Kriegs leidet. Das verkündete nun der Internationale Währungsfonds. Doch schon vor dem Überfall der russischen Truppen war klar, dass das Wirtschaftsmodell der Bundesrepublik auf gefährlichen Abhängigkeiten beruht: Das Gas kommt aus Russland, und das Wirtschaftswachstum wird von Exporten nach China befeuert. Beides muss sich ändern.
Wie riskant bis naiv es war, seine Energiesicherheit in die Hände Moskaus zu legen, hat sich inzwischen gezeigt. Auf China als freundlich gesinnten Absatzmarkt für deutsche Produkte zu vertrauen, ist allerdings ebenfalls heikel. Ohnehin will die Diktatur in Peking ihre Wirtschaft unabhängiger von Importen machen. Diese Strategie namens "doppelte Zirkulation" hat zum Ziel, dass im Gegenteil andere Länder stärker auf Technologie aus China angewiesen sind.
Daneben hat Pekings ambivalentes Verhalten gegenüber der Kriegspartei Russland letzte Zweifel zerstreut, dass Chinas Regierung den Westen im Grunde als Gegner ansieht: Zwar unterstützt Peking den Überfall der Ukraine nicht, aber Chinas Staatsmedien wiederholen russische Propaganda, während Spitzenpolitiker die "felsenfeste Freundschaft" mit Moskau zelebrieren. Früher oder später könnte der Konflikt mit China eskalieren; westliche Staaten würden dann Sanktionen gegen den von der deutschen Industrie hochgeschätzten Exportmarkt verhängen.
Nötig ist daher eine Zeitenwende in der Wirtschaftspolitik, ganz so wie sie Bundeskanzler Olaf Scholz in der Verteidigungspolitik ausgerufen hat. Dabei ist nicht das Ziel, weniger nach China auszuführen. Doch die Abhängigkeit muss verringert werden, indem die Unternehmen mehr in andere Märkte verkaufen. Es geht also nicht darum, sich von China abzukoppeln. Es geht nur darum, besser vorbereitet zu sein für den unerfreulichen Fall, dass dieses Abkoppeln künftig nötig ist oder von China selbst forciert wird.
Olaf Scholz muss den Antreiber spielen
Die Lösung liegt nahe, nämlich in der Nachbarschaft: Der gemeinsame Binnenmarkt der EU ist ein äußerst praktischer Absatzmarkt und Produktionsstandort, und mit politischem Willen könnte er noch deutlich gestärkt werden. Deutschlands Industrie könnte dann statt im chinesischen Nanjing lieber im spanischen Navarra investieren. Allerdings bleibt der Binnenmarkt bisher hinter seinen Möglichkeiten zurück, weil er unvollständig ist. Im Prinzip sollten Unternehmen Geschäfte im EU-Ausland ohne bürokratische Hürden tätigen können. De facto müssen sich Firmen aber manchmal weiter mit Hindernissen herumärgern. Und bei Dienstleistungen oder in der Internetwirtschaft, also gerade bei Wachstumsbranchen, kann von einem richtigen gemeinsamen Markt keine Rede sein.
EU-Regierungen geloben ausdauernd, wie wichtig der Binnenmarkt sei. Doch wenn es darum geht, Hürden niederzureißen, ist der Fortschritt eine Schnecke, weil immer irgendjemand irgendwelche nationalen Interessen bedroht sieht. Ähnlich deprimierend ist die Lage bei der Banken- und Kapitalmarktunion, dem ehrgeizigen Vorhaben, einen gemeinsamen Markt für Bank- und Börsengeschäfte in der EU zu schaffen. Auch das würde Europas Wirtschaft helfen und die Abhängigkeit von anderen Finanzzentren schmälern, etwa London und New York. Ein echter Energie-Binnenmarkt lässt gleichfalls auf sich warten; es fehlt zum Beispiel an Pipelines, um Flüssigerdgas von schwach ausgelasteten Hafenterminals in Spanien nach Frankreich und weiter nach Deutschland zu transportieren.
Diese Zögerlichkeit kann sich die EU nicht länger erlauben. Die 27 Regierungen müssen den Krieg in der Nachbarschaft und das dubiose Taktieren Pekings als Weckruf begreifen. Und Kanzler Scholz sollte in Brüssel den Antreiber spielen, um Europas Wirtschaft auf diese Weise zu stärken und unabhängiger zu machen. Das wäre allein schon aus nationalem Eigeninteresse angesagt, dient aber der ganzen Europäischen Union. Der rot-grün-gelbe Koalitionsvertrag ist voll blumiger Versprechen in der Europapolitik. Jetzt wird es Zeit für Taten.