Er flucht, der Herr im Anzug. Die Bäckerschlange in der Bahnhofshalle war ihm im Weg, und er hat es doch eilig, sehr eilig, mit seinem Rollkoffer, seinem Headset, seiner Arbeit. "Mann", stößt er aus, den Kopf schüttelt er auch noch, hastet weiter. Die kleinen Rempeleien, sie sind wieder da, und das im großen Ausmaß, denn die Republik reist wieder, vor allem auch beruflich.
Dass Menschen aus verschiedenen Städten regelmäßig Hunderte Kilometer durch die Republik fahren, um in geschlossenen Räumen mit Keksen im statt Maske vor dem Mund Projekte zu diskutieren, war lange unvorstellbar. Der Videocall inklusive Tonpannen und lustigem Hintergrund galt als Meetingmodell der Zukunft. Allein im Jahr 2020 war die Zahl der Dienstreisen laut Verbandsstatistiken um 80 Prozent eingebrochen. Mehrere Geschäftsreiseanbieter gingen pleite, Rollkoffer, Schlafbrille, Kaffee im Speisewagen waren Insignien der Vergangenheit.
Doch ganz ohne sie scheint es nicht zu gehen: Schon 2021 fanden trotz komplexer Quarantäne- und Testregeln 30 Prozent mehr Dienstreisen als 2020 statt. Seit dem Frühjahr vergangenen Jahres sind die Zahlen regelrecht explodiert. Genaue Daten für das gesamte vergangene Jahr gibt es noch nicht, in einem ist sich die Branche einig: Sie werden hoch sein. "Wir haben immer eine Bugwelle erwartet", sagt Alexander Albert, Deutschlandchef des drittgrößten Geschäftsreiseanbieters der Welt, BCD Travel, und Vorsitzender des Geschäftsreiseausschusses beim Deutschen Reiseverband (DRV). Die Intensität hat selbst ihn überrascht.
Er sieht mehrere Ursachen, unter anderem schlicht Nachholbedarf. Vertagte Projekte, verschobene Konferenzen haben sich über zwei Jahre angesammelt. Dazu kamen pandemiebedingte Versorgungsengpässe, Krieg in Europa: "Gerade mit den Lieferkettenproblemen war der Bedarf für persönlichen Austausch immens", sagt Albert. Gleichzeitig war 2022 ein gesundheitspolitischer Wendepunkt: Im Frühjahr waren viele Menschen geimpft, in zahlreichen Ländern sind Restriktionen weggefallen. Letztere, sagt Albert, seien entscheidend gewesen. Davor war vielen Arbeitnehmern das Reisen untersagt - weil die Firma Aufwand und Kosten scheute, oder weil Länder wie etwa China schlicht die Einreise verboten. Und selbst wenn Menschen reisen durften, war die Organisation zu kompliziert. "Zwei Wochen Quarantäne für ein Ein-Tages-Meeting waren einfach nicht umsetzbar", sagt Albert.
Kreativer Austausch funktioniert für viele Menschen vor allem persönlich
Nun, wo das Reisen wieder einfacher ist, packen die Menschen noch aus einem weiteren Grund wieder ihre Koffer: Die Wertschätzung für den direkten Austausch ist gestiegen. Das hat sich bei einer Untersuchung des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation gezeigt. Zusammen mit dem German Convention Bureau, das Deutschland als Veranstaltungsstandort vermarktet, haben die Arbeitsweltforscher herausgefunden, dass Vorortveranstaltungen als überdurchschnittlich wichtig für kreativen Austausch empfunden werden. Und das, obwohl sie bei vielen Menschen nur einen geringen Anteil der Arbeitszeit ausmachen. "Das Netzwerken fällt vielen im persönlichen Kontakt leichter", sagt Stefan Rief, Studien- und Institutsdirektor. "Dazu gehört beispielsweise auch, von jemandem eingeführt zu werden oder zufällige Kontakte zu knüpfen."
Im Gegensatz zur touristischen Reise wird die Dienstreise nicht kurzfristiger, sondern längerfristiger geplant. Die Beratungszeit habe sich im Vergleich zu vor der Pandemie nahezu verdreifacht, sagt BCD-Deutschlandchef Albert. Von simplen Fragen zum Buchungsvorgang bis zur komplexeren Notfallplanung, nun greifen wieder mehr Menschen zum Telefon. Vor allem direkt beim Neustart war der Beratungsbedarf groß. "Auch die Dienstreisenden mussten erst wieder lernen zu reisen", sagt Albert. Allmählich pendele sich das wieder ein, aber auf höherem Niveau.
Auch die Wünsche haben sich verändert. Zehn Prozent mehr Geschäftsreisende als in früheren Jahren sorgen sich darum, ob sie unterwegs sicher sind, zeigt eine aktuelle Umfrage des DRV. Die Bandbreite reicht von großen gesundheitlichen bis zu kleinen praktischen Themen. "Fragen wie 'Was passiert, wenn ich vor Ort plötzlich einen positiven Corona-Test habe?' beschäftigen die Menschen nach wie vor", sagt Albert. Die Reisenden wünschen sich Notfallnummern und Informationen über Risiken vor Ort im Vorhinein. Gleichzeitig möchten sie mehr erleben, hat Forscher Rief herausgefunden: "Den Menschen ist wichtiger als früher, vor Ort in die lokale Umgebung einzutauchen, sich zu vernetzen mit dem, was dort passiert. Vor der Pandemie stand die Wissensvermittlung stärker im Vordergrund."
Züge und Mietwagen sind seit der Pandemie besonders beliebt
Wer einmal Sachen packt, ist in der Regel länger unterwegs - kein Wunder, vor allem innerdeutsch und innereuropäisch entscheiden sich die Reisenden öfter für den Zug statt für das Flugzeug. Auch Mietwagen sind seit der Pandemie besonders beliebt. "Im Mietwagen atme ich eben nur meine eigene Luft", sagt Albert. "Der Klassiker, dass man morgens nach Paris fliegt für ein einstündiges Meeting und abends zurück, der ist mittlerweile die große Ausnahme", sagt Albert. Tagestrips machen seinen Schätzungen zufolge maximal 20 Prozent der Reisen aus. Stattdessen werden Termine zusammengelegt.
Nicht nur deshalb ist berufliches Reisen teurer geworden: Auch Energiepreise und Fachkräftemangel lassen die Kosten für Anreise und Übernachtung steigen. Bis heute gebe es Hotels, wo die Restaurants oder ganze Etagen geschlossen seien, weil es an Personal mangele, sagt Albert. Viele Unternehmen in Hotellerie und Gastronomie müssen außerdem Kosten für Kredite und ausgefallene Einnahmen der vergangenen Jahre kompensieren. Das erklärt, warum die Zahl der Reisen gesunken ist, aber die Umsätze teils schon über dem Niveau von 2019 liegen. Branchenweit rechnet Albert für 2023 mit 80 bis 85 Prozent der Umsätze von 2019.
Wann sich das normalisieren wird, ist unklar. Albert schätzt: 2026. Die Entwicklung in China und Russland, wo früher ein großer Anteil der Geschäftsreisen hinging, beobachtete er genau. Er hat in seiner Laufbahn schon viele Erschütterungen der Branche miterlebt, das Sars-Virus etwa. "Früher kamen die Krisen alle sechs bis sieben Jahre, jetzt sind die Abstände kürzer geworden", sagt Albert. Dass immer öfter Entwicklungen am anderen Ende der Welt bedingen, wie viele Menschen hierzulande in die Businessclass steigen, sei längst Alltag. "Daran sieht man vor allem, wie globalisiert wir alle leben."