Impfstoffe und Medikamente:Im Pharma-Land Schweiz werden viele nervös

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Blick in eine Novartis-Fabrik in Stein am Rhein. Der Konzern unterstützt Biontech bei der Abfüllung des Impfstoffs. (Foto: oH/Unternehmen)

Wie sehr behindern die Patente den Kampf gegen die Pandemie? Der neue Vorstoß der EU beunruhigt die wichtige Schweizer Pharma-Industrie. Denn die sieht das Problem ganz woanders.

Von Isabel Pfaff, Bern

Die Schweiz zählt zu den wichtigsten Pharmastandorten weltweit. Zwei der fünf größten Unternehmen der Branche, Roche und Novartis, haben hier ihren Hauptsitz. In keinem anderen Land ist der Anteil, den die Pharmafirmen am Bruttoinlandsprodukt erwirtschaften, so hoch: rund fünf Prozent. Mehr als 40 Prozent der Schweizer Exporte gehen zurück auf Pharma- und Chemiefirmen. Und: Kein Land meldet pro Million Einwohner mehr Patente in Europa an als die Schweiz - woran die großen Pharmaunternehmen erheblichen Anteil haben.

Nun hat sich vor wenigen Wochen US-Präsident Joe Biden plötzlich auf die Seite jener Länder geschlagen, die im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) für eine temporäre Aufhebung des Patentschutzes auf Corona-Impfstoffe plädieren. Und am Mittwoch sprach sich die EU-Kommission überraschend dafür aus, dass Staaten während der Pandemie das Instrument der Zwangslizenzen nutzen sollten, um die Impfstoffknappheit in armen Ländern zu beheben. Als Zwangslizenzen bezeichnet man die im WTO-Rahmen bereits bestehende Möglichkeit, als Landesregierung einen Patentinhaber zu zwingen, einem anderen Hersteller die Patentnutzung zu erlauben.

Im Pharmaland Schweiz sehen das die Unternehmen kritisch. Zwar haben Roche und Novartis selbst keinen Covid-19-Impfstoff auf den Markt gebracht, doch die Schweizer Pharmafirmen spielen trotzdem eine wichtige Rolle im Kampf gegen die Pandemie. Roche zum Beispiel hat mehrere Corona-Tests entwickelt. Darüber hinaus laufen gerade Studien zum Roche-Medikament Actemra, das bei der Behandlung von Covid-19-assoziierter Lungenentzündung helfen soll. Zusammen mit dem US-Biotechnologieunternehmen Regeneron hat Roche zudem den Antikörper-Cocktail REGN-COV2 entwickelt, der schon in einigen Ländern eingesetzt wird.

Novartis unterstützt Pfizer und Biontech bei der Produktion ihres Vakzins: Die Basler beteiligen sich an der Abfüllung des Impfstoffs. Darüber hinaus wird Novartis demnächst den Wirkstoff und die Messenger-RNA des Impfstoffs von Curevac in einem österreichischen Werk herstellen.

Im Wallis produziert außerdem der Schweizer Pharmazulieferer Lonza den Wirkstoff für das Vakzin des US-Unternehmens Moderna. Derzeit betreibt Lonza in Visp drei Produktionslinien, die jährlich 300 Millionen Wirkstoffdosen herstellen. Nun hat Moderna mit Lonza die Verdoppelung der Kapazitäten bis Anfang des kommenden Jahres vereinbart.

Das Problem sei nicht ein Patent, sagt Roche, sondern die komplexe Produktion

Auf mehreren Ebenen verdient die Schweizer Pharmaindustrie also an der Pandemie mit. Wohl auch deshalb sorgen die jüngsten Vorstöße für Unruhe unter den Herstellern. Severin Schwan, Konzernchef bei Roche, bezeichnete ein Aufweichen des Patentschutzes in der Financial Times als "Katastrophe", die einer Verstaatlichung der Industrie gleich käme. Auf Anfrage ergänzt ein Sprecher von Roche: "Der Flaschenhals bei der Herstellung ist nicht das Patent, sondern der komplexe Produktionsprozess." Die Medikamente, die Roche zur Behandlung von Covid-19 anbiete, seien Biologika. Deren Herstellung sei so kompliziert und langwierig, dass Zwangslizenzen oder der Verzicht auf Patente nicht dabei helfen würden, die Medikamente schneller verfügbar zu machen.

Bei Novartis sieht man das ähnlich. "Der Schutz des geistigen Eigentums hat die schnellste Impfstoffentwicklung aller Zeiten ermöglicht", teilt der Konzern mit. Die Diskussionen um Einschnitte in die Patentrechte würden nicht dazu beitragen, die weltweite Verteilung von Impfstoffen zu beschleunigen. Die wirklichen Hindernisse seien "Rohstoffknappheit, die technische Komplexität der Impfstoffherstellung, logistische Herausforderungen und die Herausforderungen bei der Verteilung vor Ort".

In diesem Sinne äußert sich auch ein Sprecher von Interpharma, dem Verband der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz. "Ein Aussetzen der Patentrechte oder Zwangslizenzen sind die falschen Antworten auf ein komplexes Problem." Er vergleicht die Impfstoffherstellung mit Brotbacken: "Dafür braucht man nicht nur ein Rezept, sondern auch die Zutaten, den Ofen und einen Bäckermeister." An allem fehle es zur Zeit. Die Hersteller begegneten diesen Herausforderungen mit Partnerschaften. Solche wichtigen Technologietransfers ermögliche gerade der Schutz des geistigen Eigentums. "Wer in dieser Lage den Patentschutz aufweicht", so der Verbandssprecher, "schwächt entscheidend die Antworten der Forschungsgemeinschaft auf Mutationen und zukünftige Pandemien." Im Klartext: Ohne die Gewinnanreize und Sicherheiten, die der Patentschutz bietet, dürfte die Industrie sich künftig deutlich weniger engagieren.

Die Schweizer Linke positioniert sich anders

Doch nicht alle in der Schweiz stellen sich hinter die Pharmafirmen. "Wir müssen dafür sorgen, dass die Patente auf Impfstoffe freigegeben werden", sagt etwa Jon Pult, Vizepräsident der Schweizer Sozialdemokraten, die mit zwei Vertretern auch im Bundesrat, dem Schweizer Regierungsgremium, vertreten sind. Die Schweiz müsse sich im Rahmen der WTO für eine Ausnahme einsetzen, so Pult.

Neben den Sozialdemokraten sprechen sich auch die Grünen für eine Aufhebung des Patentschutzes aus. Außerparlamentarisch wirbt zudem eine Phalanx von Schweizer Nichtregierungsorganisationen (NGOs) für eine Lockerung der Regeln zum geistigen Eigentum - auch mit dem Verweis auf die immensen staatlichen Hilfen bei der Impfstoffentwicklung. Schon im Januar forderten die NGOs Public Eye und Amnesty International die Schweizer Regierung dazu auf, die Suspendierung des Urheberrechtsschutzes bei der WTO zu unterstützen; fast 20 Organisationen unterzeichneten den Brief. Darin schreiben die NGOs, dass freiwillige und auch Zwangslizenzen als Mittel gegen die Impfstoffknappheit nicht ausreichten, weil die damit verbundenen Prozesse zu zeitaufwendig seien.

Doch bislang bleibt die Schweiz auf Linie mit ihren Pharma-Akteuren. Wie das Staatssekretariat für Wirtschaft auf Anfrage mitteilt, ist die Schweiz davon überzeugt, dass ein Aussetzen der Patentrechte "keinen gerechten, bezahlbaren und raschen Zugang" zu Covid-19-Vakzinen und -Mediamenten gewährleisten könne. Dafür bedürfe es eher einer "harmonischen Zusammenarbeit zwischen allen betroffenen Akteuren". Entsprechend hält die Schweizer Regierung freiwillige Lizenzen für wirksamer als die von der EU-Kommission ins Spiel gebrachten Zwangslizenzen. Man sei aber "offen für die Diskussion von Lösungen" im WTO-Rahmen.

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