Chemiebranche:"Arbeitskämpfe zählen zu unserem Werkzeugkasten"

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Dieser Warnstreik ist schon neun Jahre her, bald könnte es ähnliche Bilder geben: Mitglieder der IG BCE aus Hamburg, Niedersachen und Schleswig-Holstein demonstrieren am 25.03.2015 in Hamburg auf dem Hachmannplatz. (Foto: Axel Heimken/dpa)

In der Chemie gehen Gewerkschafter und Arbeitgeber eigentlich recht nett miteinander um. Nun aber steht die nächste Lohnrunde an - und der Verhandlungsführer der IG BCE bringt Warnstreiks ins Spiel.

Von Benedikt Peters

Streiks und die Chemieindustrie - das ist etwas, das man eigentlich nicht recht zusammenbringt. Der letzte größere Arbeitskampf in der Branche fand 1971 statt, vor 53 Jahren also; damals gingen etwa 30 000 Arbeiter für vier Wochen in den Ausstand. Nun aber könnte sich in der Chemie etwas drehen - darauf deuten zumindest einige Anzeichen vor der Tarifrunde für 585 000 Beschäftigte hin, die in diesen Wochen Fahrt aufnimmt. Der Verhandlungsführer der Chemiegewerkschaft IG BCE, Oliver Heinrich, bringt Warnstreiks ins Spiel. "Wenn wir bis Ende Juni nicht in die Nähe eines Abschlusses kommen, dann können wir unsere Forderungen auch anders deutlich machen", sagt der Gewerkschafter der SZ. "Die Arbeitgeber sollten eigentlich wissen: Arbeitskämpfe zählen zu unserem Werkzeugkasten."

Am 30. Juni endet die Friedenspflicht in der Chemie-Tarifrunde, erste Gespräche finden im Mai statt. An diesem Mittwoch hat die IG BCE endgültig beschlossen, wie viel Geld sie für die Beschäftigten herausholen will. Sieben Prozent mehr pro Monat sollen es sein; das soll die Lücke schließen, welche die Inflation nach Berechnungen der Gewerkschaft in die Geldbeutel der Beschäftigten gerissen hat. "Das ist das, was die Kollegen brauchen", sagt Verhandlungsführer Heinrich - und kündigt an, dass der Abschluss in einer ähnlichen Höhe liegen müsse. "Das Doppelte fordern und sich dann auf die Mitte einigen, ist nicht unser Stil. Wir brauchen eine Lösung, die den Reallohnverlust ausgleicht."

Die Arbeitgeber wollen einen Krisenabschluss

Das Klima zwischen Gewerkschafte+++n und Arbeitgebern war in der Chemieindustrie über viele Jahre auch deshalb vergleichsweise entspannt, weil es viel zu verteilen gab. Ob bei Pharma-, Kosmetik- oder klassischen Chemiekonzernen wie BASF: Die Gewinne sprudelten, und die Löhne der Beschäftigten stiegen mit hübscher Regelmäßigkeit. Seit dem 24. Februar 2022 aber ist das anders. Der russische Überfall auf die Ukraine führte zum Energiepreisschock - und dieser war in der Chemieindustrie besonders groß, da die Produktion dort viel Strom und Gas benötigt.

Inzwischen haben sich die Energiepreise zwar wieder stabilisiert, sie liegen aber noch immer deutlich höher als in China und den USA. Das nährt die Sorge, dass immer mehr Konzerne Arbeitsplätze auslagern könnten. Außerdem leidet die Chemiebranche unter der insgesamt schwachen Konjunktur in Deutschland. Seit 2022 sei die Produktion um zwölf Prozent zurückgegangen, warnt der Arbeitgeberverband BAVC, in diesem Jahr sehe es kaum besser aus: 43 Prozent der Firmen machten nur niedrige Gewinne oder schrieben gar rote Zahlen, so hat es der Verband in einer Umfrage ermittelt. Dies lasse nur einen Schluss zu, sagt Hauptgeschäftsführer Klaus-Peter Stiller: "Eine Branche in der Krise braucht einen Tarifabschluss für die Krise. Und genau daran werden wir in den nächsten Wochen mit der IG BCE arbeiten."

Deren Chefverhandler Heinrich sieht das jedoch ganz anders; eine ganze Branche in die Krise zu reden, sei falsch. "Manche Unternehmen haben Schwierigkeiten, das stimmt." Es gebe aber auch viele "Krisengewinner", etwa Kosmetik- und Pharmafirmen; insgesamt ziehe die Produktion wieder an. In der klassischen Chemie sei die Lage nicht dramatisch, das gelte selbst für den Branchenriesen BASF, der zuletzt mit Sparprogrammen von sich reden machte. Der Ludwigshafener Konzern schütte nach wie vor hohe Dividenden an die Aktionäre aus, argumentiert Heinrich, bei vielen Konkurrenten sei die Lage ähnlich.

Nach SZ-Informationen soll die unterschiedliche wirtschaftliche Situation der Betriebe in den Tarifverhandlungen zur Sprache kommen. Die IG BCE will dann ins Spiel bringen, die Regeln auszuweiten, nach denen Firmen vom Tarifvertrag abweichen können - indem sie etwa Lohnerhöhungen aufschieben, wenn sie Verluste machen. Nach dem Willen der Gewerkschaft soll es auch eine Regel für Betriebe geben, die besonders hohe Gewinne machen: Sie sollen ihre Beschäftigten mehr zahlen als andere Firmen.

Es wird schon nachgedacht, welche Firmen sich gut bestreiken lassen

Der Vorschlag dürfte den sich anbahnenden Konflikt allerdings kaum befrieden. Der Ton zwischen beiden Seiten ist in diesem Jahr rauer als sonst. "Wer eine Nullrunde fordert, so wie die Arbeitgeber das de facto tun, der treibt die Beschäftigten ohne Not auf die Bäume", sagt der Gewerkschafter Heinrich. Die Arbeitgeber wiederum teilen eher kühl mit: "Die Chance, ihre Erwartungen für die Tarifrunde an die Lage unserer krisengeschüttelten Branche anzupassen, hat die IG BCE nicht genutzt."

Dass Streiks in der Chemie wahrscheinlicher werden, darauf deutet neben dem ruppigen Gesprächsklima auch ein Vorgang vom Dezember hin. Die IG BCE kündigte ein Schlichtungsabkommen, das seit 1982 bestand; es ermöglichte eine Urabstimmung über Streiks erst nach einer Schlichtung. "Das verengt unsere strategischen Optionen und ist auch nicht mehr zeitgemäß", sagt Oliver Heinrich. Die Kündigung greift Ende Juni - also just dann, wenn die Friedenspflicht in der Chemie endet.

Der Tarifvorstand betont jedoch, dass er es nicht per se auf Streiks anlege. "Ich stehe für tarifpartnerschaftliche Auseinandersetzung und Sachlichkeit." Er müsse aber zur Kenntnis nehmen, dass es eine gewisse "Erwartungshaltung" unter den Mitgliedern gebe. Diese speise sich einerseits aus den inflationsbedingten Lohnverlusten, andererseits aus den Erfolgen, die andere Gewerkschaften mit Arbeitskämpfen erzielt haben, etwa die Lokführergewerkschaft GDL und Verdi. "Die Streikwellen der jüngeren Vergangenheit sind ihnen nicht entgangen. Da gibt es nicht wenige, die sagen: Lasst uns doch mal machen." Unabhängig von konkreten Tarifrunden modernisiert die IG BCE gerade ihr Streikmanagement - es müsse schneller, flexibler und digitaler werden.

Aus seinem früheren Gewerkschafterleben kennt sich Heinrich schon mit Streiks aus. Als Landesbezirkschef im Nordosten wirkte er maßgeblich am Arbeitskampf beim Dresdner Chiphersteller Globalfoundries mit, die IG BCE erstritt in dem Unternehmen mit 3200 Beschäftigten einen Tarifvertrag. 2024 wurde er Tarifvorstand - und trifft mit dem Merck-Manager Matthias Bürk auf einen Verhandlungsführer bei den Arbeitgebern, der ebenfalls neu in diesem Amt ist. Offenbar hat der Gewerkschafter Heinrich auch schon darüber nachgedacht, welche Konzerne in der Chemie sich für Arbeitskämpfe eignen würden. "Streiklokomotiven könnten Unternehmen sein, die wirtschaftlich vor Kraft kaum gehen können. Und davon gibt es viele."

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