Es war nicht einmal ein Börsentag nötig, um die gigantische Summe von 200 Milliarden Dollar in Rauch aufgehen zu lassen. Noch vor einigen Tagen hatten die Anlegerinnen und Anleger die Chipaktie von Nvidia als neuen Star gefeiert, plötzlich rutschten die Titel an nur einem einzigen Tag um zehn Prozent in die Tiefe. Als die Aktie völlig ohne triftigen Grund taumelte, dämmerte auch den hartnäckigsten Börsenoptimisten, dass die Stimmungslage am Parkett plötzlich gekippt war: Anlageprofis, so schien es, wollten plötzlich einen Teil ihrer Gewinne in Sicherheit bringen. Und brachten genau damit die Unsicherheit in den Markt.
Monatelang hatten schließlich zwei eingängige Narrative die Kurse in immer weitere Höhen getragen: Die Euphorie um Künstliche Intelligenz beförderte Aktien wie Nvidia nahezu senkrecht nach oben, dann half die Hoffnung auf sinkende Zinsen dem Aktienmarkt auch in der Breite. Nun aber ventilieren Anlageprofis den nächsten Grund für steigende Notierungen: Die Unternehmen sollen mit guten Gewinnen die Aktienbörsen beflügeln. Da alleine in der laufenden Woche etwa ein Drittel aller Firmen im US-Leitindex ihre Zahlen vorlegen, fragen sich derzeit viele am Parkett: Kann das wirklich funktionieren?
Wer das ergründen will, muss ein wenig im Kaffeesatz der Börsenwelt lesen. Turnusmäßig schätzen schließlich Analystinnen und Analysten in den großen Banken, wie stark die Gewinne der einzelnen Unternehmen in den großen Börsenindizes wachsen dürften. In den Analysen zeigt sich ein deutlich divergierendes Bild zwischen alter und neuer Welt. Während die Unternehmensgewinne im US-Leitindex S&P 500 in diesem Jahr um elf Prozent steigen dürften, erwarten Anlagestrategen für die Firmen im deutschen Leitindex Dax immerhin ein Gewinnwachstum von rund zwei Prozent ( siehe Grafik).
In den USA stimmen gleich drei Faktoren die Wall Street optimistisch: Einerseits floriert die US-Wirtschaft, was sich jüngst auch in einer überraschend hartnäckigen Inflation im Land zeigte. "Die Inflation zeigt umgekehrt auch, dass viele Unternehmen nach wie vor Preissetzungsmacht haben", sagt Chefaktienstratege Sven Streibel von der DZ-Bank. Im Klartext: Wenn viele Unternehmen die Preise unbekümmert weiter nach oben setzen können, könnte das am Ende auch die Gewinne treiben. Vor allem die tonangebenden Tech-Titel um Namen wie die Chipfirma Nvidia, die Facebook-Mutter Meta oder Amazon dürften gerade zu Jahresbeginn rasante Gewinnsteigerungen melden.
In Europa wiederum regiert stärker das Prinzip Hoffung: "In Deutschland und Europa sollten wir jetzt aus der Wachstumsdelle herauswachsen", sagt Aktienstratege Streibel. Auch wenn viele Anleger in diesem Quartal hierzulande noch von deutlich sinkenden Gewinnen ausgehen, könnte die Lage spätestens ab Mitte des Jahres deutlich freundlicher aussehen. Schließlich sind viele Großkonzerne gerade in den vergangenen Jahren mit Coronakrise, Ukrainekrieg, Energiepreisschock und Fachkräftemangel gleich mehrfach durchgeschüttelt worden, ohne dass es ihnen zusammengenommen nachhaltig geschadet hätte. "Die Unternehmen im Dax haben in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Robustheit unter Beweis gestellt", sagt Aktienstratege Streibel.
Inzwischen werden jedoch immer mehr Ungereimtheiten klar, mit denen Anlagestrategen das Narrativ von den steigenden Gewinnen in Frage stellen: Erstens kommen im Leitindex S&P 500 derzeit fast alle Gewinnhoffnungen von den fünf größten Tech-Konzernen wie Nvidia oder Alphabet. Rechnen Experten ihre Gewinne aus der Bilanz heraus, bleibt vom üppigen Gewinnplus nichts mehr übrig. Die Unternehmensgewinne der restlichen 495 Firmen im US-Leitindex dürften in diesem Quartal sogar um sechs Prozent fallen, in der Breite ist der Gewinnschub also selbst im Vorzeige-Börsenland USA noch nicht angekommen.
Zweitens scheinen die Anlegerinnen und Anleger bislang auf gute Unternehmenszahlen kaum zu reagieren. Übertreffen die Unternehmen mit ihren Gewinnen die Erwartungen der Analysten, können die Kurse in der entsprechenden Woche normalerweise im Durchschnitt um zwei Prozent steigen. Nach der starken Kurseuphorie der vergangenen Monate blieb genau dieser Schub in den USA in den vergangenen Wochen allerdings aus. Nach Berechnungen des Datenanbieters Factset stiegen die Kurse bei positiven Überraschungen bislang überhaupt nicht, während sich die Anleger bei schlechten Nachrichten der einzelnen Firmen äußerst verschreckt zeigten ( siehe Grafik). "Diese Entwicklung spricht für heißgelaufene Märkte, die auf gute Nachrichten nicht mehr positiv reagieren", sagt Anlageexperte Jürgen Molnar vom Broker Robomarkets.
Anstatt auf Hoffnungen schauen also immer mehr Anleger am Parkett auf die harten Fakten. "Um die Zuversicht an den Börsen aufrechtzuerhalten, müssen die Gewinne die hohen Erwartungen erfüllen", sagt Ann-Kathrin Petersen vom Vermögensverwalter Blackrock. Da in dieser Woche mit Meta, Microsoft, der Google-Mutter Alphabet und Tesla gleich vier der großen US-Hoffnungswerte ihre Zahlen offenlegen, haben manche Strategen bereits ein neues Narrativ erfunden: Die Börsen stünden derzeit vor nichts weniger als einer "Woche der Wahrheit". Darunter machen es die Anleger schließlich selten.