Ob der Chefvolkswirt der Bank of England wusste, wie stark er ins Kreuzfeuer geraten würde, ist nicht ganz klar, fest steht nur: Huw Pill hat in Großbritannien einen wahren Sturm der Entrüstung ausgelöst. Die Daily Mail fasste den Furor auf ihrer Titelseite so zusammen: "Wut, als der Chefbanker mit einem Jahresgehalt von 190 000 Pfund dem Rest von uns sagt: Ihr müsst akzeptieren, dass ihr ärmer seid!" Mal davon abgesehen, dass die meistverkaufte Boulevardzeitung des Landes damit eine Neid-Debatte lostrat, trifft die Schlagzeile durchaus den Punkt, den der Chefvolkswirt gemacht hatte.
Pill sprach in einem Podcast der New Yorker Columbia University über die Folgen der hohen Inflation, die Großbritannien noch immer stärker plagen als vergleichbare Volkswirtschaften. Anders als in Deutschland oder Frankreich ist die Inflationsrate im Vereinigten Königreich nach wie vor zweistellig, laut neuesten Zahlen liegt sie bei 10,1 Prozent. Pill sagte also, dass die Menschen und die Firmen in Großbritannien akzeptieren müssten, dass es ihnen schlicht und einfach schlechter gehe. Man müsse mit den Versuchen aufhören, die reale Kaufkraft zu erhalten, indem man die Löhne und die Preise erhöhe.
So deutlich wie Pill hat noch niemand von der Bank of England öffentlich ausgesprochen, was die Notenbank fürchtet: Sollten sich Unternehmen und Gewerkschaften nicht mäßigen, könnte die Inflation noch länger auf einem hohen Niveau verharren. Die Firmen warnte Pill jedenfalls davor, die Energiekosten auf die Kundschaft abzuwälzen, indem sie höhere Preise verlangen. Und die Arbeitnehmerschaft rief er indirekt dazu auf, mit ihren Lohnforderungen nicht zu übertreiben.
Die große Sorge: eine Lohn-Preis-Spirale wie damals in den Siebzigerjahren
Pills große Sorge ist, dass mit steigenden Löhnen die Preise noch weiter steigen und die Wirtschaft in eine Lohn-Preis-Spirale gerät, aus der sie schwer wieder herauskommt. So wie einst in den 1970er Jahren. Um ein solches Szenario zu verhindern, dürfte die Bank of England den Leitzins bei ihrer nächsten Sitzung in der kommenden Woche weiter anheben. Schon jetzt liegt er mit 4,25 Prozent höher als jener der Europäischen Zentralbank mit 3,5 Prozent.
Für die konservative britische Regierung sind das keine guten Aussichten. Zum Jahresbeginn hatte Premierminister Rishi Sunak versprochen, die Inflation zu halbieren. Doch vier Monate später hat sich noch nicht viel getan. Kein Wunder, dass die Tories in den Umfragen weit hinter der Labour Party liegen. In dieser Woche finden in weiten Teilen Englands Kommunalwahlen statt, da wird sich zeigen, wie stark den Konservativen die Schuld an der aktuellen Wirtschaftslage zugeschrieben wird. Die hohen Lebenshaltungskosten sind laut Umfragen das Thema, das die Menschen am meisten beschäftigt.
Wer verstehen will, wie sehr die cost of living crisis den Alltag beherrscht, muss nur in einen Supermarkt gehen. Um zu wissen, welche Lebensmittel besonders teuer sind, lohnt sich vorher ein Blick auf eine Liste der Verbraucherschutzorganisation "Which?", die zeigt, wie stark die Preise binnen eines Jahres gestiegen sind. Butter und Milch plus 25 Prozent. Backwaren plus 20 Prozent. Gemüse und Fleisch plus 13 Prozent. Die Kosten für Lebensmittel sind neben jenen für Strom und Gas die stärksten Preistreiber in Großbritannien.
Immerhin: Es gibt es jetzt wieder Tomaten und Salat in den Supermärkten
Immerhin hat sich die Lage in den Gemüseregalen wieder entspannt. Im Winter waren in britischen Supermärkten Tomaten, Salatköpfe und Paprika Mangelware. Das lag zum einen am schlechten Wetter, zum anderen an den Folgen des Brexit. Der britische EU-Austritt hat nicht nur bei Lebensmitteln dafür gesorgt, dass die Preise steigen. Die Kosten für Unternehmen, die über den Ärmelkanal handeln, sind wegen der Zollbürokratie deutlich gestiegen. Hinzu kommt: Das britische Pfund ist im Vergleich zum Euro - und vor allem zum US-Dollar - längst nicht mehr so stark wie in der Zeit vor dem Brexit-Referendum. Die Folge: Importe sind teurer geworden.
Kein Wunder, dass sich die Stimmung im Land verändert. Die Mehrheit sieht den Brexit laut Umfragen mittlerweile kritisch. Sunak ist das nicht entgangen, und so versucht der Premier, die Beziehungen zur EU wieder zu verbessern. Nachdem der Streit um Nordirland gelöst ist, gibt es ein weiteres Signal aus London, das in Brüssel sehr positiv aufgenommen worden ist. So will die britische Regierung ihren Plan aufgeben, bis zum Jahresende alle noch geltenden EU-Rechtsvorschriften zu überprüfen oder zu streichen. Das entsprechende Gesetz ( Retained EU Law Bill) soll zwar weiter in Kraft treten, aber de facto will die Regierung die Sache "pragmatisch" angehen.
Wirtschaftsministerin Kemi Badenoch erklärte zum Ärger der Hardcore-Brexiteers, dass die meisten der fast 4000 beibehaltenen EU-Rechtsvorschriften unangetastet blieben. Bis Ende des Jahres würden womöglich 800 abgeschafft, sagte sie. Die Regierung will jedenfalls eine bislang anvisierte Verfallsklausel streichen, wonach EU-Rechtsvorschriften automatisch zum Jahresende auslaufen würden, wenn sie bis dahin nicht überarbeitet oder beibehalten werden.
Anders als Truss und Johnson setzt Sunak auf Kooperation mit der EU
Die Deadline am 31. Dezember hatte die britische Wirtschaft alarmiert. Unternehmensverbände und Gewerkschaften fürchteten bereits eine neue Phase der Unsicherheit. Nun scheint diese Gefahr gebannt zu sein. Bei den noch geltenden EU-Vorschriften geht es nicht nur um Produktstandards, sondern auch um Verbraucherschutzregeln sowie um Rechte für die Arbeitnehmerschaft.
Auch wenn Sunak den Brexit bei öffentlichen Auftritten noch immer preist, hat er längst einen Kurswechsel gegenüber der EU vollzogen. Anders als die beiden Ex-Premiers Liz Truss und Boris Johnson tritt er kooperativ gegenüber Brüssel auf. Die Zeit der ständigen Konfrontation ist vorbei. Und Sunaks Kalkül ziemlich klar: Will er bei den Unterhaus-Wahlen im kommenden Jahr eine Chance haben, muss er den glaubhaften Eindruck erwecken, dass nur er die vom Brexit gebeutelte Wirtschaft wieder zum Laufen bringen kann.
Einfach wird das nicht. Seit Monaten wird in Großbritannien in allerlei Branchen gestreikt, am Montag zogen erneut Krankenschwestern und Pfleger in den Arbeitskampf. Die Beschäftigten des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS fordern eine Lohnsteigerung in Höhe der Inflationsrate, also zweistellig. Die Regierung lehnt das ab, sie hofft, dass die Inflation bis zum Sommer deutlich sinken wird - und damit auch die Lohnforderungen. Ob der Plan aufgeht, wird sich zeigen. Dass die Inflationsrate in den kommenden Monaten fallen dürfte, davon geht jedenfalls auch die Bank of England aus. Die Frage ist nur, wie schnell und wie stark.
Abgesehen von der hohen Inflation gibt es noch eine weitere Sorge im Vereinigten Königreich: das schwache Wachstum. Die Prognose der OECD macht zumindest wenig Hoffnung. Demnach soll es in diesem Jahr nur zwei Länder unter den G-20-Staaten geben, deren Wirtschaftsleistung schrumpft: Großbritannien und Russland.