Das Klimaschutz-Paket, der Corona-Hilfstopf, neue Spielregeln für das Internet, Investitionen in Infrastruktur weltweit und die Förderung der Chipbranche: Ursula von der Leyen wagte am Montag in ihrer Eröffnungsrede des SZ-Wirtschaftsgipfels in Berlin den ganz großen Rundumschlag. Die EU-Kommissionspräsidentin legte dar, wo Europa bei den ehrgeizigen Vorhaben steht, die sie angestoßen hat. Für die CDU-Politikerin ist es fast schon eine Art Halbzeitbilanz. Schließlich trat sie den Posten in Brüssel vor ziemlich genau zwei Jahren an, und in drei Jahren wird ihre Amtszeit auslaufen.
Das wichtigste und wohl auch am härtesten umkämpfte Vorhaben ist der sogenannte Grüne Deal, das Klima- und Umweltschutzprogramm der EU. Aber alleine wird Europa die Klimaerwärmung nicht stoppen können; die EU ist nur für acht Prozent des globalen Ausstoßes an Treibhausgasen verantwortlich. Umso bedeutender ist die gerade zu Ende gegangene weltweite Klimakonferenz im schottischen Glasgow.
Doch deren Ergebnisse kritisierte von der Leyen bei ihrem Auftritt als zu wenig ehrgeizig. Das Resultat sei angesichts der drängenden Herausforderungen "gerade mal ein Zwischenschritt und nicht der große Erfolg", sagte die langjährige frühere Bundesministerin.
Sie bezeichnete es als Enttäuschung, dass bei den Verhandlungen in Glasgow der weltweite "Kohleausstieg nur zu einem Kohleabbau verwässert worden ist, und zwar in allerletzter Minute". Kohlekraftwerke jagen besonders viele Klimagase in die Atmosphäre. Zudem würden die Industrieländer arme Staaten beim grünen Umbau der Wirtschaft nicht ausreichend finanziell unterstützen, sagte die 63-Jährige. Europa habe hier seine Versprechen erfüllt, "aber andere nicht".
Die mauen Ergebnisse sind für von der Leyen auch politisch heikel. Schließlich hat die Kommission im Sommer ein umfangreiches Gesetzespaket vorgelegt, um die schmerzhaften Einsparziele bei Treibhausgasen wirklich zu erreichen. Nun stehen die Verhandlungen darüber im Europaparlament und im Ministerrat an, dem Entscheidungsgremium der Mitgliedstaaten. Dass sich andere Wirtschaftsmächte in Glasgow weniger ambitioniert gezeigt haben als die EU, gibt jenen Kritikern Aufwind, die bei einem Vorpreschen vor Nachteilen für Europas Industrie warnen.
Muss Europa ein Vorbild für die Welt sein?
So klagt Wolfgang Große Entrup, der Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie, dass "viele Länder unbequeme Maßnahmen weiter in die Zukunft verschieben, während Europa den klimaneutralen Umbau der Wirtschaft bereits massiv vorantreibt". Die EU müsse nun "sicherstellen, dass die heimische Industrie während der Transformation nicht unter die Räder kommt". Auch Markus Beyrer, Generaldirektor des europäischen Unternehmerdachverbands Business-Europe, moniert, dass "wir in Glasgow einen Mangel an nationalen Zusagen von den größten Handelspartnern der EU gesehen haben".
Von der Leyen sprach bei der Konferenz in Berlin lieber davon, dass sich "aus dieser Vorreiterrolle eine große Chance für Europa und Deutschland" ergeben könnte. Die EU stehe in der Pflicht, "ein gutes Vorbild zu sein", und wenn Europa beweise, dass man gleichzeitig wirtschaftlich prosperieren und das Klima schützen könne, würde das eine "gigantische Signalwirkung" für den Rest der Welt haben, schwärmte sie.
Die Politikerin verteidigte auch die geplante Verschärfung und Ausweitung des EU-Emissionshandelssystems - vor allem Letzteres ist sehr umstritten. Der Emissionshandel ist das Herzstück europäischer Klimapolitik: Viele Industriebetriebe und Energieversorger benötigen seit 2005 Verschmutzungsrechte, wenn sie Klimagase in die Atmosphäre blasen. Die EU verknappt die Zahl dieser Kohlendioxid-Zertifikate, doch die Verschmutzungsrechte sind handelbar. Daher können Konzerne entweder in neue grüne Technik investieren oder überschüssige Zertifikate von Unternehmen kaufen, denen es leichter fällt, den Ausstoß an Treibhausgasen zu senken. Durch diesen Mechanismus werden die Einsparziele auf die effizienteste und billigste Art erreicht.
Europas Marktanteil bei Chips soll sich verdoppeln
So weit, so unstrittig. Die Kommission schlägt aber in ihrem Klimaschutz-Gesetzespaket vor, das Emissionshandelssystem im Jahr 2026 auf Heizen und Verkehr auszuweiten. Dann müssten auch Verkäufer von Benzin oder von Öl und Gas zum Heizen Verschmutzungsrechte erwerben. Das würde die Preise für Verbraucher verteuern. Das halten zahlreiche EU-Regierungen für politisches Gift - und der Ärger der vergangenen Wochen über die hohen Strom- und Gaspreise bestärkt diese Zweifler.
Von der Leyen betonte hingegen beim Wirtschaftsgipfel, dass "CO₂ einen spürbaren Preis haben" müsse und solch eine Bepreisung ein "Innovationstreiber" sei. Sie bekräftigte, dass dies ebenso für Verkehr und Heizen gelten sollte, wobei so eine Ausweitung "von einem verlässlichen sozialen Ausgleich begleitet sein" müsse. Die Kommission will daher einen Teil der neuen Zertifikate-Einnahmen aus den Bereichen Heizen und Verkehr nutzen, um einen Klimasozialfonds zu füllen. Der soll Regierungen dabei unterstützen, Härten abzufedern, zum Beispiel durch Zuschüsse für Wärmedämmung. Ist die Ausweitung am Ende politisch nicht durchsetzbar, wäre damit zugleich der neue Sozialfonds in Gefahr - zwei wichtige Teile des sorgsam austarierten EU-Gesetzespakets könnten scheitern.
Nach ihrer Rede machte sich von der Leyen auf in die Niederlande, wo sie ASML in Eindhoven besuchte, einen Maschinenbauer für die Chipbranche. Das Unternehmen lobte sie auch in ihrer Berliner Ansprache, als sie ihr Ziel wiederholte, dass sich Europas Marktanteil bei der Halbleiterproduktion bis 2030 auf zwanzig Prozent verdoppeln solle. Kein Zweifel: An ehrgeizigen Zielen herrscht kein Mangel in der EU.