Japan:Übernächtigt und schlecht bezahlt

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Notfall-Krawatte um vier Uhr nachts: Japan ist für seine 24-Stunden-Läden bekannt. Doch die sind nun in Gefahr. (Foto: James Whitlow Delano/Bloomberg)

Rund um die Uhr einkaufen gehen - in Japan hat das Tradition. Doch vielen 24-Stunden-Läden droht nun das Aus, weil sie kein Personal finden. Ursache dafür ist auch die Überalterung der Gesellschaft.

Von Thomas Hahn, Tokio

Der Shimentoinari-Schrein liegt im Dunkeln, die Straßen des Tokioter Stadtteils Nishioizumi sind leer. Und Yosuke Ichikawa putzt die Kaffeemaschine, denn um vier Uhr morgens ist Zeit dafür. Er mag die Nachtschicht im FamilyMart-Laden an der Sangyo-Straße, die im Westen der japanischen Hauptstadt an niedrigen Wohnhäusern vorbei in die Nachbarpräfektur Saitama führt. Er ist 33, alleinstehend, hat tagsüber einen anderen Job "in einem Dienstleistungsunternehmen", wie er sagt, und er fühlt sich fit genug, um zwei-, dreimal pro Woche etwas dazuzuverdienen, wenn andere Leute schlafen. Nachtarbeit ist sein Ding, Yosuke Ichikawa scheint ein bisschen stolz darauf zu sein.

Mit leisem Unbehagen blickt er deshalb in die Zukunft. Der Arbeitskräftemangel ist auch für seinen Chef ein Thema, und aus der FamilyMart-Zentrale kam die Ankündigung, dass sie ab März 2020 ihre Lizenzinhaber von der Pflicht zum 24-Stunden-Betrieb befreien wird. Gibt es bald keine Nachtschicht mehr? "Das könnte schade sein", sagt Yosuke Ichikawa vorsichtig.

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Die Sorge des Laden-Mitarbeiters Ichikawa gehört zu den Symptomen des demografischen Wandels. Japans Bevölkerung schrumpft und altert, das Konsumverhalten verändert sich, vor allem aber die Menge an Menschen, die sich den Job in den 24-Stunden-Läden antun wollen. Und damit gerät eine japanische Besonderheit in Gefahr, denn diese Läden sind ja nicht irgendwelche Shops. Manche Reiseführer preisen sie als Sehenswürdigkeit an. Sie gehören zu Nippons Konsumkulturerbe. Die Japaner nennen sie Konbini, abgeleitet von dem englischen Ausdruck Convenience Store. Und praktisch sind die Konbinis tatsächlich. Das liegt nicht nur daran, dass man dort Plastikschirme bei Wolkenbrüchen, Notfall-Krawatten für 1649 Yen (13,70 Euro) oder eine breite Palette an frischen Mahlzeiten kaufen kann.

In Konbinis kann man Geld abheben, auf die Toilette gehen, Papiere ausdrucken lassen, Pakete verschicken, Strom- und andere Rechnungen bezahlen. Das alles an sieben Tagen in der Woche rund um die Uhr, also immer. Und praktisch überall, denn bei mehr als 56 000 Läden, die vor allem die größten Ketten Seven-Eleven, FamilyMart und Lawson über ihre Lizenznehmer im ganzen Land betreiben lassen, kommt es einem wirklich so vor, als gebe es an jeder Ecke eine solche Service-Zentrale. Allein der FamilyMart-Laden in Nishioizumi, in dem Yosuke Ichikawa arbeitet, hat zwei Konkurrenten im Umkreis von wenigen Hundert Metern. Dienstleistungsparadies Japan. Aber wie lange noch?

Im Februar dieses Jahres bekam die Konbini-Debatte eine neue Qualität. Denn im Februar verstieß Mitoshi Matsumoto, Lizenzinhaber eines Seven-Eleven-Konbinis in Higashiosaka, Präfektur Osaka, ohne Rücksprache mit der Zentrale gegen die vertraglich festgelegte 24-Stunden-Regel. Er machte seinen Laden von ein Uhr nachts bis sechs Uhr morgens zu. Matsumoto, 58, konnte einfach nicht mehr. "Ich war kurz davor, krank zu werden oder an Überarbeitung zu sterben", zitierte ihn die Japan Times. Die Folge: etwas mehr Ruhe und wegen wegfallender Lohnkosten 400 000 Yen (3300 Euro) auch etwas mehr Gewinn im Vergleich zum Februar 2018. Matsumoto findet: "Der Betreiber sollte allen Lizenzinhabern erlauben, die Öffnungszeiten zu kürzen, wenn die das wollen."

Tatsächlich lenkt Seven-Eleven ein, was sicher auch mit steigenden Lohnkosten zu tun hat. Nach einer Statistik des japanischen Arbeitsministeriums verdienen Konbini-Angestellte im Vergleich zu Angestellten in anderen Branchen zwar immer noch schlecht, nämlich knapp über dem durchschnittlichen Mindestlohn. Aber der steigt eben seit Jahren kontinuierlich und ist 2019 bei 901 Yen (7,50 Euro) angelangt.

Seit 1. November haben jedenfalls acht Seven-Eleven-Läden offiziell die Erlaubnis, von 23 bis sieben Uhr geschlossen zu bleiben. 200 weitere testen die kürzeren Betriebszeiten und könnten die Nachtschicht auch abschaffen, wenn deren Inhaber das wollen, wie Seven-Eleven-Präsident Fumihiko Nagamatsu zuletzt verkündet hat. Wie der ganz große Wurf wirkt das noch nicht, denn Seven-Eleven ist nicht nur Japans Pionier, der Mitte der Siebzigerjahre den ersten Konbini in Tokio eröffnete. Das amerikanisch-japanische Unternehmen ist auch Japans Marktführer mit insgesamt 21 000 Filialen und hat aus Sicht mancher Experten dazu beigetragen, dass das Personal knapp wird.

Andere Ketten lenken ein und erlauben flexiblere Öffnungszeiten

Das verheerende Ostjapan-Erdbeben mit Tsunami von 2011 verhalf den Konbinis zu neuer Beliebtheit, nachdem der Markt eigentlich schon als ausgereizt gegolten hatte. "Betroffene Menschen fühlten sich erleichtert, als sie sahen, dass die Läden sogar nach der Katastrophe aufhatten", erklärt Nobuo Kawabe, ein emeritierter Professor für Management-Geschichte an der Waseda-Universität in Tokio. Zwischen 2011 und 2017 eröffnete Seven-Eleven deshalb jährlich etwa 1000 Filialen, die alle so sauber und gut ausgestattet sein sollten wie die anderen Filialen auch. Das erhöhte den Wettbewerb um Arbeitskräfte gegen den Trend der schrumpfenden Bevölkerung. Kawabe kritisiert, Seven-Eleven habe "die Philosophie von Koexistenz und gemeinsamem Wohlstand von Lizenzunternehmen vergessen".

Die Konkurrenz scheint etwas konsequenter auf den Wandel zu reagieren. FamilyMart, die Nummer zwei auf dem Konbini-Markt mit 16 000 Filialen, hat kürzere Öffnungszeiten getestet und will sie ab März allen Lizenznehmern umstandslos erlauben, die sie für nötig erachten. Und Lawson berichtet auf SZ-Anfrage, dass Anfang November 118 seiner rund 14 000 Läden ohne Nachtbetrieb arbeiteten.

"Wir spüren den Mangel an Teilzeitbeschäftigten", schreibt das Unternehmen in einer E-Mail-Antwort: "Als Maßnahme dagegen fördern wir die operative Effizienzsteigerung mithilfe von digitalen Technologien." Unter anderem läuft seit August in Yokohama ein Test mit einem Selbstbedienungs-Konbini, in dem die Kunden unter den Kameraaugen eines erweiterten Überwachungssystems bargeldlos an unbemannten Kassen zahlen.

Für Yosuke Ichikawa ist das keine schöne Aussicht, eines Tages vielleicht von einer Selbstbedienungskasse ersetzt zu werden. Aber er sieht den Wandel selbst. "Die Nachtschichtarbeit wird immer weniger." In Tokios Mitte sieht er viele Ausländer in den Konbinis. Dabei greift die neue Einwanderungspolitik der Regierung noch gar nicht richtig. Für viele Japaner ist der Lohn im Konbini zu schlecht. Er selbst arbeitet seit zehn Jahren bis zum frühen Morgen dort, putzt, räumt Waren ein, kassiert die vereinzelten Nachtschwärmer ab, bereitet den Laden auf den ersten großen Kundenschwung vor, der gegen fünf einsetzt. Er findet das gut. Yosuke Ichikawa möchte nicht, dass nachts in den Konbinis das Licht ausgeht.

© SZ vom 30.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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