Marokko bei der WM:Freude, die in keine Schablone passt

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Vorsicht, bissig: Kostümierte Marokko-Fans warten auf den Beginn des WM-Halbfinals gegen Frankreich. (Foto: Tom Weller/dpa)

In ganz Nordafrika schauen die Menschen das WM-Halbfinale Marokkos. Es überwiegt trotz der Niederlage gegen Frankreich der Stolz über bekämpfte Minderwertigkeitskomplexe und widerlegte Stereotype.

Von Mirco Keilberth, Tunis

23 Sonderflüge waren aus Marokko nach Katar geflogen. An Bord Fußballfans, die Teil eines historischen Moments werden wollten. So groß wie die Unterstützung für das marokkanische Nationalteam vor dem WM-Halbfinale gegen Frankreich am Mittwoch war, so groß war auch der Erwartungsdruck, stetig gewachsen bis zum Eintreffen dieses historischen Moments: Erstmals hatte es eine Mannschaft aus Afrika und der arabischen Welt bei einer Weltmeisterschaft in die Runde der besten Vier geschafft.

Der Stolz darauf, dass man mit den Europäern und Südamerikanern mithält, war von Doha bis Casablanca allgegenwärtig. In ganz Nordafrika zog es die Menschen vor die Bildschirme, in die Cafés oder auf öffentlichen Plätze, die mit ihren Großbildleinwänden voll besetzt waren. In Marokko stand das öffentliche Leben während des Spiels praktisch still. Und es blieb entgegen der Befürchtungen überall ruhig. Von einigen Medien und in sozialen Netzwerken war das Duell des ehemaligen französischen Protektorats Marokko gegen die ehemalige Kolonialmacht zu einer Art Wiedergutmachung hochstilisiert worden.

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Marokkos Trainer Walid Regragui hatte sich von solch einer kulturellen Vereinnahmung vor dem Spiel freundlich, aber bestimmt distanziert: "Wir spielen erst einmal für die Menschen in unserem Land. Und dann für den afrikanischen Kontinent. Wir freuen uns natürlich auch über die Unterstützung aus der arabischen Welt", hatte der in Frankreich geborene und bei Paris lebende 47-Jährige gesagt. Seine Spieler waren den favorisierten Franzosen dann ein ebenbürtiger Gegner. Als Jawad El-Yamiq kurz vor der Pause fast mit einem Fallrückzieher ausglich, schickte er auch in der tunesischen Hauptstadt Tunis ein Raunen durch die vollen Cafés und Bars.

"Das Spiel beweist, dass afrikanische und arabische Mannschaften bei der WM keine Statisten mehr sind, sondern mithalten können", sagte Mehdi Barhoumi, ein Projektmanager, der sich dort das Spiel mit marokkanischen, französischen und tunesischen Freunden in der Yuka-Bar angeschaut hatte. "Auch Tunesien und Senegal haben ja taktisch und spieltechnisch überzeugt. Die immer noch bestehenden Minderwertigkeitskomplexe unserer Gesellschaften gegenüber Europa werden während der WM in Katar abgebaut. Da ist es mir fast egal, wer heute gewinnt."

Viele marokkanische Spieler verstehen auf arabisch gestellte Fragen nicht

Für Schlagzeilen sorgte nach dem Spiel eine kleine Minderheit von marokkanischen Fans, die sich in Paris und anderen französischen Städten vereinzelt Straßenschlachten mit der Polizei lieferte. 115 Menschen wurden im Großraum Paris festgenommen, weil sie Feuerwerkskörper auf Sicherheitskräfte abgefeuert oder auf der Straße Brände gelegt hatten.

In Marokko wurde die Niederlage dagegen gefasst aufgenommen. Mit einem Sieg hatten sowieso nur wenige gerechnet. "Niemand hätte sich vorher vorstellen können, dass wir nun um Platz drei spielen", sagt Mohamed Attiat. Der IT-Ingenieur hat sich das Spiel in Casablanca vor einer Großbildleinwand angeschaut. Die Vereinnahmung des Teams durch Fans und Medien aus der arabischen Welt sieht er positiv: "Sie hören dadurch den marokkanischen Dialekt, den unsere Spieler sprechen. Darija halten viele Araber vom Golf für minderwertig. Andere marokkanische Spieler bevorzugen nur Amazigh oder Französisch. Marokko und die Region sind eben arabisch, muslimisch, afrikanisch und irgendwie auch europäisch. Wir passen in keine der üblichen Schablonen."

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In den WM-Stadien Katars haben die marokkanischen Anhänger mit ihren Trommeln und ihrem Gesang viel Sympathie gewonnen. Ein Kontrast zu den Pressekonferenzen vor und nach den Spielen. Dort erhält der Panarabismus und die Vereinnahmung von Sportjournalisten wie dem Tunesier Issam Chaouali regelmäßig einen kleinen Dämpfer. Viele marokkanische Spieler und ihr Trainer Regragui verstehen auf arabisch gestellte Fragen nicht und wenden sich an die neben ihnen sitzenden Dolmetscher.

Von allen in Katar spielenden Mannschaften verkörpert Marokko wohl am besten, was diese Weltmeisterschaft ausmacht: Die alten Stereotypen funktionieren nicht mehr. Wenn die Spieler in Darjia antworten, werden in arabischen TV-Sendern Untertitel eingeblendet. "English, please", sagte Mittelfeldspieler Abelhamid Sabiri zu den anwesenden Journalisten aus aller Welt vor dem Spiel gegen Frankreich. Sabiri spricht ansonsten Tashelhit, einen südmarokkanischer Berberdialekt. Und er spricht Deutsch: Er ist in Frankfurt aufgewachsen.

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