WM 2010: Südamerika dominiert:Konter und Kollektiv

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Die südamerikanischen Teams prägen mit ihrem kontrollierten Konzeptfußball und "deutschen Tugenden" die WM. Doch erst im Viertelfinale wird sich zeigen, ob sich die kontinentalen Machtverhältnisse des Weltfußballs wirklich verschieben.

Thomas Hummel, Johannesburg

Auf der Suche nach Indizien, vielleicht sogar Hinweisen, wollte Marcelo Bielsa kein bisschen helfen: "Ich weiß es nicht, habe keine Ahnung. Und da ich es nicht weiß, ziehe ich es vor, dazu nichts zu sagen", brummte er. Es war vermutlich nicht der richtige Moment, Marcelo Bielsa mit der Frage zu konfrontieren, warum Südamerika bei dieser Weltmeisterschaft so stark ist wie nie. Kurz zuvor waren seine Chilenen als bislang einzige Mannschaft des Kontinents ausgeschieden.

Die Kräfteverhältnisse im Fußball könnten sich verschieben - Chiles Niederlage gegen Brasilien war erst die zweite Pleite einer südamerikanischen Mannschaft bei dieser WM. (Foto: dpa)

Chile verlor sein Achtelfinale 0:3, es war erst die zweite Niederlage, die Südamerika in 20 WM-Partien hinnehmen musste. Doch es ließ sich für Südamerika an diesem Montagabend im Johannesburger Ellis Park schlicht nicht verhindern, der Gegner hieß Brasilien. Die Seleção sowie die Argentinier erfüllen bislang die Erwartungen in der Heimat und marschieren scheinbar unaufhaltsam durch das Turnier. Uruguay steht zum ersten Mal seit 40 Jahren im Viertelfinale, Nachbar Paraguay nach dem Sieg im Elfmeterschießen gegen Japan überhaupt zum ersten Mal. Und selbst die ausgeschiedenen Chilenen Bielsas gehörten zu den Attraktionen des Turniers.

Beeindruckende Latinos

Und so wabert die Frage durch die Stadien, warum die Südamerikaner in diesem Jahr derart beeindrucken. Viele Beobachter sprechen schon von einer Copa America mit globaler Begleitung. Gerardo Martino, Paraguays Trainer, gab nach dem historischen Sieg am Dienstag in Pretoria Anhaltspunkte: "Die Mannschaften sind sehr gut vorbereitet. Sie haben sehr gute Individualisten, bilden aber auch ein Kollektiv."

Außer Diego Maradona sprechen die Trainer davon, ihre Mannschaften über mehrere Jahre aufgebaut zu haben sowie eine Spielidee mit nach Südafrika gebracht zu haben. Und bis auf Bielsa, den Freund des offensiven, attraktiven Fußballs, haben alle die gleiche Idee mitgebracht: Erst mal hinten dicht, und vorne mittels überfallartigen Kontern oder Einzelaktionen die Tore schießen.

Brasiliens Stürmer Robinho, der vor der WM für ein halbes Jahr zu seinem Heimatklub FC Santos zurückgekehrt war, erklärte: "Unser Fußball hat sich gut entwickelt. Es ist ein attraktiver, der aber auch verteidigen kann." Und wie seine Brasilianer verteidigen können. Vor der stark besetzten Vierer-Abwehrkette warten noch einmal drei defensive Mittelfeldspieler, die schon vor dem Strafraum jede gegnerische Spielfreude ersticken. Bei eigenen Angriffen bleiben immer sechs Akteure hinten, um bei Ballverlust den Konter zu verhindern. Brasilien scheint in der Defensive bei dieser WM nichts überraschen zu können, Paraguay und Uruguay haben ebenfalls mehrere Versicherungen in ihr Spiel eingebaut, selbst das Spiel der Argentinier basiert auf einer stabilen Defensive.

WM 2010: Muskelspiele in Südafrika
:Geballte Fußballerkraft

Bei der WM in Südafrika geben viele Teilnehmer in den neuen, hautengen Shirts ihrer Mannschaft eine gute Figur ab. Doch auch ein muskelgestählter Körper kann den Gegner beim obligatorischen Trikottausch nach dem Spiel beeindrucken.

So ergibt sich, dass die vier südamerikanischen Viertelfinalisten in 16 Partien ganze sechs Gegentore zuließen. Das schöne Spiel der Latinos basiert auf defensiver Disziplin, Ordnung, fleißigen Zweikämpfen und Geschlossenheit. In gewisser Weise also auf "deutschen Tugenden".

Chiles Trainer Marcelo Bielsa überraschte bei dieser WM mit seiner spielfreudigen Mannschaft. (Foto: getty)

Bei Ballgewinn fallen die Mannschaften dann über den Gegner her. Vor allem Brasilianer und Argentinier verstehen sich im Schallgeschwindigkeits-Konter, angeführt von außergewöhnlichen Talenten in der Offensive: Robinho und Kaká, Messi und Tévez, Forlán und Suárez, Barrios und Santa Cruz. Fällt erst das 1:0, werden die Abwehrreihen noch dichter geschlossen und die Konter bewegen sich in Richtung Lichtgeschwindigkeit.

Schwächelnde Europäer

Vielleicht heißt es in ein paar Jahren aber auch, der Zufall konzentrierte 2010 so viele herausragende Talente auf dem Kontinent. Oder gründet der südamerikanische Zauber gar nur auf der Schwäche der anderen? Vor allem auf der Schwäche der Europäer, die fern ihrer Heimat noch nie eine WM gewinnen konnten?

Frankreich zerfiel, Italien auch, England reiste beschämt nach Hause. Die Schweiz war chancenlos gegen Chile, die Griechen ebenso gegen Argentinien. Nur ebenfalls defensiv stabile Portugiesen boten den Brasilianern erfolgreich die Stirn (0:0).

Nun trifft es sich, dass das Halbfinale tatsächlich zu einer rein südamerikanischen Angelegenheit werden könnte. In jedem Viertelfinale steht eine Nation des Kontinents, die Europäer stellen mit Spanien, Deutschland und den Niederlanden ihre besten Vertreter dagegen. Uruguay erwartet mit Ghana die letzten Afrikaner. In der Runde der letzten acht wird sich die Frage klären, ob Südamerika tatsächlich diese WM dominiert wie keine andere zuvor. Und vielleicht hat dann auch Marcelo Bielsa etwas dazu zu sagen.

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