WM 2010: Spanien - Chile:Wagemut im Überfluss

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Chile bringt Spanien mit Pressing in Verlegenheit, doch dann macht auch der eigene Torwart mit - und schießt den Europameister ins Achtelfinale. 80 Minuten Tempofußball entschädigen für einen Nichtangriffspakt in der Schlussphase. Und am Ende jubelt auch der Verlierer.

Noch zehn Minuten waren zu spielen, aber die Partie war schon vorbei. In teils atemberaubendem Tempo hatten sich beide Gegner das vielleicht intensivste Duell dieser WM-Vorrunde geliefert. Dann waren beide Mannschaften erschöpft. Sukzessive erkannten die Fußballer, dass der knappe Spielstand beiden Teams genügte. Der Konkurrent um Platz zwei, die Schweiz, hätte zeitgleich gegen Honduras noch zwei Tore erzielen müssen, so viel Pech würde man nicht haben.

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Die einzige Hoffnung Europas im Reigen der starken Südamerikaner? Zumindest gegen Chile gewinnen die Spanier und zeigen ihre individuelle Klasse - haben dabei aber Glück, dass sie ein Stürmer rettet und rettet und rettet. Die Einzelkritik.

Thomas Hummel, Pretoria

Spanien führte 2:1 gegen Chile, in den letzten Minuten rollte der Ball nur noch durch die hinteren Reihen, dann war die Rechnung aufgegangen: Spanien trifft im Achtelfinale auf Portugal, Chile spielt als Zweiter gegen Brasilien. So ein Stillhalteabkommen ist eigentlich nichts sportlich Faires, doch diesmal pfiff niemand. Zu unterhaltsam, zu kämpferisch waren die 80 Minuten davor gewesen.

Es war die Woche der abgestürzten europäischen Traditionsteams, und doch wären die Blamagen von Franzosen und Italienern nichts gewesen gegen die Enttäuschung, die an diesem Freitagabend den Spaniern drohte. Frankreich war zerstritten, Italien gealtert. Spaniens Team aber ist auf dem Höhepunkt seines Schaffens nach Südafrika gekommen, es ist in dieser Formation Europameister geworden, aber nun musste ein Sieg her, damit es nicht vorzeitig ausschied. Darauf zu spekulieren, dass die Schweiz gegen Honduras nicht gewinnt, kam nicht in Frage.

Beständig störende Fußspitzen

Sie stürmten also drauflos, unmittelbar nach dem Anpfiff, die Männer in den signalroten Hemden, sie setzten jedem Ball hinterher und verausgabten sich derart, dass ihnen nach wenigen Minuten der Schweiß auf der Stirn stand, sie kassierten im Auftrag Achtelfinale gelbe Karte um gelbe Karte, sodass früh klar war, dass zwei von ihnen selbiges verpassen würden - nur dass es sich dabei nicht um Spanier, sondern um Chilenen handelte. Die Spanier trugen diesmal blaue Trikots, nicht der Europameister dominierte, sondern die Überraschungself des argentinischen Trainers Marcelo Bielsa.

Der lässt seine Stürmer konsequent zwischen den Reihen der gegnerischen Aufbauspieler kreuzen, so schnell, dass Spanien nicht zu seinem Spiel fand. Nur eine Ballberührung im Aufbauspiel, das hatte Spaniens Trainer Vicente der Bosque in der Vorbereitung üben lassen, aber angesichts beständig störender chilenischer Fußspitzen wurden es meistens zwei oder drei, und dann war der Ball wieder beim Gegner.

Die Konsequenz waren drei hochkarätige Chancen durch Sanchez und Beausejour, dazu jede Menge schnelle überraschende Kombinationen nach Art der Spanier - der Ertrag: Null. Chiles großer Vorstoß verpuffte nach 20 Minuten, als wäre nichts gewesen. Denn alles Pressing vorne nutzt nichts, wenn hinten Torwartfehler passieren, wie in der 24. Minute jener von Claudio Bravo.

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Spanien spielt gegen Chile phasenweise dominant und gewinnt in Überzahl mit 2:1. Beide Teams stehen damit im Achtelfinale - zum Leidwesen der Schweizer. Die Bilder.

1:0 stand es plötzlich für Spanien, es war der skurrilste Treffer des bisherigen Turniers. Xabi Alonsohatte es mit einem weiten Pass die linke Außenlinie entlang auf Fernando Torres versucht, der Ball war noch gut 30 Meter vom chilenischen Tor entfernt und Torres war auch bewacht von Medel - da rutschte plötzlich Bravo durch die Szenerie.

Auch Chiles Torwart beherzigte also offensives Pressing, aber sein Wagemut wurde nicht belohnt. Der von ihm abgegrätschte Ball landete - circa 40 Meter vor dem Tor - bei David Villa, dem Mann, der mit beiden Füßen ansatzlos und zielgenau schießen kann. Nun schoss, besser flankte er mit links. Der Ball flog, Medel schaute, Bravo erstarrte und Villa jubelte schon, bevor das Netz sich wölbte.

Bielsas Spieler waren fortan desillusioniert. Sie blieben fleißig, sammelten weitere Karten, aber die Feldüberlegenheit der Anfangsphase wich allmählich. Spaniens wiedervereintes Trio im offensiven Mittelfeld, Xavi, der genesene Iniesta und Villa gewannen immer mehr Einfluss auf die Partie.

Moreno wickelt die Szene ab

Das Spiel wurde immer intensiver, die aufregenden Aktionen folgten immer schneller aufeinander und verdichteten sich in der 37. Minute zu einer Szene, die bereits wie eine Vorentscheidung wirkte. Über links und über David Villa lief der Angriff, den Andres Iniesta mit großer Übersicht in die rechte Ecke zum 2:0 abschloss.

Rechts daneben lief unterdessen der bereits verwarnte Marco Estrada Spaniens Angreifer Fernando Torres in die Beine. Schiedsrichter Rodriguez Moreno aus Mexiko wickelte die Szene der Reihe nach ab. Erst gab er das Tor, dann stellte er Estrada mit gelb-roter Karte vom Platz.

Chile gab dennoch nicht auf, die Mannschaft mühte sich und kam in der 47. Minute sogar noch zum Anschlusstreffer - Piquet hatte einen Schuss von Millar unhaltbar für Torwart Iker Casillas abgefälscht -, doch das Tempo der ersten Minuten erreichten sie zu zehnt nicht wieder. Bielsa brachte Fabian Orellana für den ausgepumpten Alexis Sanchez, aber schließlich war man froh, kein weiteres Tor mehr kassiert zu haben.

Chiles Spieler, die mit teils glänzendem Fußball auftraten, stehen im Achtelfinale, es war die erste Niederlage eines südamerikanischen Teams bei dieser WM, aber die Mannschaft jubelte dennoch.

© SZ vom 26.06.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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