Deutsche Überraschung in Wimbledon:Auf der Wolke reiten

Lesezeit: 4 Min.

Jule Niemeier jubelt über ihren Achtelfinaleinzug. (Foto: Alberto Pezzali/AP)

Von Null auf 16: Jule Niemeier erreicht bei ihrem ersten Wimbledon-Start das Achtelfinale. Auf dem Weg dorthin beweist sie, dass sie auch an weniger guten Tagen einen Weg zum Sieg findet. Tatjana Maria folgt ihr - Angelique Kerber hingegen muss abreisen.

Von Gerald Kleffmann, Wimbledon

Sie standen erst mal ein paar Minuten in einer kleinen Ecke hinter Court 18, die ganzen Niemeiers, die dieser Tage so in Wimbledon rumschwirren. Mutter Annette, Vater Michael, Bruder Jona, dazu noch Trainer Christopher Kas, der Physio Florian Nowy. Es wurde abgeklatscht, geherzt, und inmitten der Gruppe schnaufte Jule Niemeier durch und wischte sich die Tropfen von der Stirn. Sie schwitzte noch nach. Ihr Gesicht verriet, dass sie deutlich mehr mitgenommen war als bei ihrem Einsatz davor. Sie schaute aber wieder ungläubig. Achtelfinale. Wimbledon. Nun also tatsächlich die nächste Chance, aufs Viertelfinale gar. Die Niemeiers werden noch eine Weile hier im All England Club rumhängen, das hat ihnen ihre Tochter eingebrockt. Es sollte im Übrigen nicht die einzige erfolgreiche deutsche Familiengeschichte an diesem Tag sein.

In der zweiten Runde war Niemeier ja regelrecht über Anett Kontaveit hinweggefegt, 6:4, 6:0 in unter einer Stunde. Diesmal musste sie sich 2:04 Stunden mühen, und es sah zwischenzeitlich gar nicht mal so gut aus, was sie da anstellte. Niemeier maulte ein bisschen rum, einmal kickte sie mit der Ferse den Ball weg, sie war in einen negativen Strudel der Gefühle geraten. "Sie hat sich nicht die ganze Zeit super gefühlt", erklärte Kas, der sich kurz den Medien zur Verfügung stellte, Niemeier musste erst in die Umkleide.

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"Das ist das Entscheidende", sagte der Coach: "dann trotzdem bereit zu sein. Wenn du dich nicht so gut fühlst, genügend aktive Sachen zu machen, die Gedanken zu sortieren". Und so gewann Niemeier noch mit 6:4, 3:6, 6:3 gegen die Ukrainerin Lesia Zurenko. "Am Ende war Jule die, die die Gedanken besser sortiert hat", sagte Kas, der strahlend zugab: "Wir sind auf einer gewissen Wolke, und auf der werden wir jetzt einfach weiterreiten."

Die Lernkurve der 22-jährigen Westfälin geht gerade sehr schnell sehr steil nach oben

Das deutsche Frauentennis hat schneller als erwartet eine Spielerin hervorgebracht, die tatsächlich Fähigkeiten besitzt, um bei einem großen Turnier wie in Wimbledon gute Gegnerinnen zu besiegen. Niemeier, 22, aus Dortmund, ist die erste aus einer wirklich jüngeren Generation, die auf sich aufmerksam macht. Aber sie ist nicht die einzige Deutsche im Achtelfinale. Mindestens ebenso überraschend hat Tatjana Maria, 34, die Runde der letzten 16 erreicht. Die Mutter zweier Kinder besiegte die Weltranglisten-Fünfte Maria Sakkari aus Griechenland 6:3, 7:5 und weinte danach Freudentränen auf dem Platz. Angelique Kerber erlebte ihrerseits eine Überraschung, indes anderer Art. Die Wimbledon-Siegerin von 2018 verlor gegen die Belgierin Elise Mertens 4:6, 5:7, die 34-Jährige hatte viel zu passiv agiert.

Angelique Kerber muss aus London abreisen. (Foto: Matthew Childs/Reuters)

Niemeier dagegen spielte kraftvoll, nur ihr harter Aufschlag ließ sie diesmal im Stich. Aber sie hatte sich vorher schon ein wenig auf eine Formschwankung nach dem aufwühlenden Sieg gegen Kontaveit eingestellt. "Wichtig ist, dass ich mich in allen Bereichen weiterentwickele, damit ich auch an Tagen, an denen nicht alles läuft, gewinnen kann", hatte sie gesagt. Das war am Mittwoch. Am Freitag trat sie den Beweis an, dass ihre Lernkurve gerade wirklich stark nach oben geht. Und offenbar direkt zu jener Wolke führt, auf der sie angelangt ist. "Ich bin glücklich, dass ich gewonnen habe, auch wenn ich nicht mein bestes Tennis gespielt habe", sagte Niemeier später.

Sie hatte schon nicht gut in die Partie gefunden, die auf dem Court 18 stattfand, hier hatten 2010 John Isner und der Franzose Nicolas Mahut drei Tage lang gespielt, ehe der Amerikaner mit 70:68 im fünften Satz gewonnen hatte. Rekordträchtige Zahlen aus der der Vergangenheit, als es noch nicht die Champions-Tie-Break-Regel bei 6:6 ab. Niemeier hatte anderes im Sinn. Sie lag rasch 0:3 zurück, dann sortierte sie sich, wie es Kas sagte. 3:3 und dann 6:4. Wieder ein Hänger in Satz zwei, 0:3, kurze Aufholjagd, 3:3, wieder ein Einbruch, 3:6. Im dritten Satz rief Niemeier das erste Mal "Komm jetzt!", die Faust kam. Nach fünf Breaks - auch Zurenko wirkte sehr nervös - brachte Niemeier als Erste ihr Aufschlagspiel durch. Der entscheidende Wirkungstreffer. "Das ganze Match wurde vom Kopf her entschieden", sagte sie, "das war eine Achterbahnfahrt."

Tatjana Maria praktiziert immer noch ihren ungewöhnlichen Spielstil

Niemeier trifft nun auf die Engländerin Heather Watson, die als 109. der Weltrangliste zwölf Ränge hinter ihr rangiert. Kas machte klar, dass sich an der Herangehensweise des Teams nichts ändern wird: "Wir versuchen das mit viel Freude und Begeisterung anzugehen. Wie viel dann wirklich unter Stress übrigbleibt, das ist dann immer eine ganz andere Geschichte." Aber einen sehr speziellen Grund, warum das Viertelfinale schon besonders wäre, nannte er noch: "Das Viertelfinale war von Anfang an das Ziel. Ich bin hier im Last Eight Club", erzählte er schmunzeld. 2011 stand er ja mal im Doppel in Wimbledon im Halbfinale. "Und da kriegst du jedes Jahr ein Booklet mit einem Groundticket für jeden Tag. Hier ist es sehr schwierig, Tickets zu bekommen. Und jetzt ist unser Ziel, dass Jule auch in die letzten Acht kommt - dann haben wir nächstes Jahr schon deutlich mehr Tickets."

Sprachlos war dagegen Maria, die bei den US Open 2019 ihr letztes Match bei einem Grand-Slam-Turnier gewonnen hatte - in Wimbledon gelangen ihr jetzt drei Siege in Serie. Sie hat nun eine zweite Tochter, ihr Mann Charles Edouard ist ihr Trainer, der ganze Clan ist oft auf der Anlage zu sehen, alle kennen sie. Ihrem Spielstil ist Maria treu geblieben, sie senst Rückhand wie die Vorhand mit Unterschnitt, als wolle sie eine Wiese mähen. "Wenn man Matches verliert, denken manche, oh, die kann kein Tennis spielen", hatte sie vor ihrer Drittrundenpartie gesagt, aber auch betont: "Im Endeffekt ist es einfach eine andere Spielweise. Und ich denke, dass das sehr effektiv ist auf der Damentour."

Allerdings, denn Sakkari schob entnervt reihenweise Bälle ins Netz. Maria kämpft nun gegen die Lettin Jelena Ostapenko um den Einzug in ihr erstes Viertelfinale. Wie Niemeier ist schon das Achtelfinale ein Novum für sie. "Es ist so ein besonderer Ort für mich", sagte sie noch auf dem Platz zu Wimbledon. "Hier habe ich schwanger gespielt. Das jetzt zu schaffen mit meiner Familie, dafür gibt es keine Worte. Ich bin einfach nur glücklich."

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