Comeback der Stuttgarter Kickers:Eldorado für Nostalgiker

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Mal wieder eine Trophäe: Die Stuttgarter Kickers um Kapitän Kevin Dicklhuber (Mitte) sind mit großem Vorsprung vor der Konkurrenz in die Regionalliga Südwest aufgestiegen. (Foto: Julia Rahn/Pressefoto Baumann/Imago)

Die Stuttgarter Kickers steigen in die vierte Liga auf - unterstützt von Fans, die sich an große Zeiten erinnern, mit mehr als 100 erzielten Toren - und mit einem Grundschullehrer als Trainer.

Von Christoph Ruf

Als ob diese Saison nicht schon erfolgreich genug verlaufen wäre: Nach Meisterehrung, Aufstieg und Verbandspokalfinale haben die Stuttgarter Kickers am vergangenen Wochenende noch einmal etwas geschafft, was einem bestandenen echten Charaktertest nahekommt: Obwohl man gedanklich schon bei der Saisonabschlussfeier auf Mallorca weilt, nicht so Fußball zu spielen, als sei man auch physisch bereits dort. Genau das gelang den Kickers. Sie haben sich noch mal zusammengerissen und gegen Villingen einen 0:2-Rückstand in einen 3:2-Heimsieg verwandelt. Da gab es unter den fast 4000 Zuschauern ausnahmsweise niemanden mehr, der über die "Bube" unten auf dem Rasen, den Trainer oder die Vereinsführung schimpfen wollte.

Eine Woche zuvor war das noch anders gewesen, als die Kickers an gleicher Stelle bereits ihren Aufstieg feierten - und zwar mal so richtig, mit Meisterschale und Partybühne. Aber da war auch dieser eine Rentner, der das alles völlig übertrieben fand. Und der das auch genau so notiert wissen wollte: "Viel z'viel Theader" sei das alles, grummelte er, schließlich habe man nicht gegen den FC Bayern gewonnen (sondern gegen Sonnenhof Großaspach 1:1 gespielt). Und überhaupt: Aufgestiegen sei man zwar, aber halt nur von der Oberliga Baden-Württemberg in die Regionalliga Südwest. Eine wegwerfende Handbewegung, und dann ging's für den Nörgler ab zum Freibierstand.

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Für Menschen, die schon Schwierigkeiten haben, Jahn Regensburg oder den MSV Duisburg der richtigen Liga zuzuordnen, ist die Spielklasse, in der die Stuttgarter Kickers in den vergangenen fünf Jahren herumdümpelten, gar nicht mehr zu orten, ein Marianengraben im Fußball-Ozean. Deshalb war des Rentners Stimme auch eine einsame. Die meisten der 6650 Zuschauer, die am Tag der Aufstiegsparty einen neuen Zuschauerrekord für ihre Staffel aufstellten, freuten sich sehr und feierten in gebührender Gelassenheit. Aufgestiegen waren die Kickers ja schon eine Woche zuvor, als 3000 Auswärtsfans dem großen Rivalen SSV Reutlingen, der frecherweise eine Fanfreundschaft mit dem VfB unterhält, das Stadion vollmachten - und mit einem 0:0 belohnt wurden, das auch rechnerisch alle Zweifel am Aufstieg beseitigte.

Den letzten 100-Tore-Sturm der Kickers gab es 1947/48, damals in der höchsten Spielklasse

Wie souverän der Sprung nach oben gelang, untermauern ein paar Zahlen, zum Beispiel zur Qualität des Sturms: Kapitän Kevin Dicklhuber erzielte gegen Großaspach das 100. Saisontor - was etwas ganz Besonderes ist, weil die Kickers die magische 100-Tore-Marke schon mal geknackt hatten: 1947/48, in der damals höchsten deutschen Spielklasse. So manchem, der sich heute auf der Haupttribüne an den legendären "100-Tore-Sturm" erinnert, glaubt man, dass er damals schon dabei war. Und weil die Kickers ein Dreivierteljahrhundert später inzwischen bei 103 Saisontoren stehen und bisher auch nur 17 Gegentore fingen, steigen sie natürlich auf - auch dank ihres Cheftrainers: Mustafa Ünal hatte zuvor die U17 und die U19 der Blauen gecoacht, nebenbei arbeitet er als Grundschullehrer.

Werbung für Oberligafußball ist an dieser Stelle nicht nur wegen der Kickers angebracht. Es mag nur die fünfthöchste Spielklasse sein, doch Tempo und Niveau sind zumindest im Südwesten so hoch, dass Zuschauen richtig Spaß macht. Doch es geht natürlich um mehr für die Fans eines zertifizierten Traditionsvereins, der heilfroh ist, endlich eine Liga verlassen zu dürfen, in der die Gegner mit Glück aus Reutlingen kommen, aber eben auch aus Hollenbach oder Mutschelbach, wobei das eine ein Ortsteil von Mulfingen, das zweite eine Zierde der Verbandsgemeinde Karlsbad ist.

Der Aufstiegstrainer Mustafa Ünal hat bei den Kickers schon die U17 und die U19 trainiert. (Foto: Herbert Rudel/Sportfoto Rudel/Imago)

Was Gegner mit solchen Namen für einen Verein wie den Ex-Bundesligisten Kickers bedeuten, begreift man, wenn man bei irgendeinem Spiel der Hinrunde im Herbst hinter einem abermals sehr alten Mann sitzt, der trotz komfortabler 3:0-Führung minutenlang mit dem Schicksal hadert, weil man schon wieder nicht gegen die Bayern kickt. Sondern? "Gegen Mutschelbach! Mutschelbach!", ruft der Mann mit ungespieltem Entsetzen: "Ja, sind wir denn Idioten?"

Klinsmann, Buchwald, Allgöwer, Bobic - sogar Tuchel und Streich spielten bei den Kickers

Das kann zumindest für den Großteil des Publikums ausgeschlossen werden. Ein Besuch von Kickers-Heimspielen wäre sogar dann ein Vergnügen, wenn man 90 Minuten gar nicht auf den Rasen gucken würde. Vor allem auf den Sitzplätzen sind viele, die die Bundesligazeiten noch miterlebt haben. Oder ganz sicher zumindest die unzähligen Zweitligajahre, die 2001 zu Ende gingen. Doch in den vergangenen Jahren sind viele jüngere Kickers-Anhänger dazugekommen, auch kritische Geister, denen der Bundesligazirkus nicht nur vor der eigenen Haustür zu überdreht erscheint. Auf Degerlochs Höhen, diesem Stuttgarter Eldorado für Nostalgiker, wird das Kontrastprogramm aufgeführt: Das älteste deutsche Fußballstadion ist auch eines der schönsten. Eine Laufbahn gibt es nicht, dafür echte Eintrittskarten, eine rote Wurst vom mittelständischen Metzger, die man mit Bargeld bezahlt. Und nette Gartenwirtschaften statt austauschbaren "Sports Bars" rund ums Stadion.

Ganz so wie zu Zeiten von Jürgen Klinsmann, Guido Buchwald, Karl Allgöwer und Fredi Bobic eben, die hier oben alle ihre Karriere begonnen haben, ehe sie unten im Tal bei den Roten vom VfB Karriere machten. Auch Freiburgs Trainer Christian Streich, der die Stadt Stuttgart von 1985 bis 1987 tatsächlich als großstädtischen Moloch empfand, und Thomas Tuchel (1992 bis 1994) spielten einst für die Kickers. Überhaupt fällt auf, dass einige Kickers-Ikonen vergangener Jahre noch engen Kontakt zum Verein haben. Der frühere Stürmer Ralf Vollmer ist bei den meisten Spielen da, der langjährige Keeper Waldemar Cimander ebenfalls - und gegen Großaspach war auch "Karle" Allgöwer mal wieder auf der Haupttribüne.

Vollmer war auch dabei, als die Kickers 1988 und 1991 in die erste Liga aufstiegen. Und er stand auch 1987 auf dem Rasen des Berliner Olympiastadions, als die Blauen tatsächlich das DFB-Pokalfinale erreicht hatten. Das verloren sie zwar gegen den HSV. Doch als ein paar langjährige, der Selbstironie nicht abholde Fans vor einigen Jahren beisammensaßen, einen Fanklub begründen wollten und sich bierselig fragten, welches das positivste Erlebnis war, das sie mit ihrem Verein verbinden - da fiel ihnen ausgerechnet die nun wirklich sehr kurze 1:0-Führung aus jenem Pokalfinale ein. Die hatte ein gewisser Dirk Kurtenbach in der 13. Minute erzielt, sie hatte zwei Minuten Bestand, dann glich Dietmar Beiersdorfer aus. Den Schlusspunkt setzte Niels Schlotterbeck, der Onkel der beiden heutigen Bundesliga-Brüder Nico und Keven - leider mit einem Eigentor zum 1:3-Endstand.

Alle paar Jahre wieder kommt nun also dieser Dirk Kurtenbach, ein sehr nüchterner, sehr norddeutscher Elektriker aus Bremerhaven, auf Einladung des Fanklubs "1:0 Kurtenbach" mit seiner Frau nach Stuttgart und lässt sich feiern. Beim vorerst letzten Mal, im Sommer 2022, erfuhr der sichtlich bewegte Ex-Stürmer auf diesem Wege, dass sich ein Stuttgarter Kneipenwirt damals bei seinem Führungstor den Arm gebrochen hatte - vor Freude hatte er etwas zu fest gegen eine Wand geschlagen.

Echte Liebe kann auch mal wehtun. Wer wüsste das besser als die Kickers?

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