Mit Loyalität kennt sich Steven Gerrard aus, er hat fast sein ganzes Fußballerleben bei einem Klub verbracht: 17 Jahre FC Liverpool, das ist echte Treue, und so erlaubte sich Gerrard in der vergangenen Woche einen Seitenhieb in Richtung des FC Chelsea. Dort hatten die Verantwortlichen Frank Lampard als Trainer entlassen, einen langjährigen Mitstreiter Gerrards aus dem englischen Nationalteam: "Chelsea hat eine große Chance vertan, sich solidarisch zu zeigen und ihn zu unterstützen, als es nicht lief", fand Gerrard, "stattdessen kündigen sie ihm - aber so kennt man das von ihnen, mich hat das nicht überrascht."
Gerrards markante Worte waren erstaunlich, weil er eigentlich kein Typ für große Erklärungen ist. Bei ihm ging und geht es immer mehr um Taten, und wer seinen Werdegang seit dem Ende der aktiven Laufbahn verfolgt, stellt fest: Derzeit tut Steven Gerrard, 40, eine Menge Gutes. Seit 2018 trainiert er in Glasgow die Rangers, einen Klub, der wie Liverpool tonnenweise große Historie hinter sich hat - und der wie die "Reds" in England lange auf diesen Moment warten musste: um nach ewigen Jahren des Wartens endlich wieder titelreif zu sein.
Es gehört zur Ironie von Gerrards Karriere, dass er trotz aller Hingabe mit seinem Herzensklub Liverpool nie die Premier League gewann. Die Meisterschaft holte der Klub erst wieder, als Gerrard weg war - im Vorjahr unter Trainer Jürgen Klopp. Deshalb dürfte, wenn nicht plötzlich der Himmel auf die Erde kracht, nun Gerrards allererste Meisterschaft bevorstehen - als Trainer mit den Rangers.
23 Punkte Vorsprung hat der 54-malige Champion Schottlands inzwischen bereits auf den ewigen Stadtrivalen Celtic, der auch mit zwei offenen Nachholspielen kaum noch ernsthaft heranrücken kann. Der Architekt dieses Erfolges, Gerrard, hat sich in der Fremde ein neues Zuhause konstruiert.
Es ist ein ziemlich prunkvolles Werk, denn mit einer Tordifferenz von 67:7 stellen die Rangers - mit Blick auf das pure Zahlenwerk - aktuell nicht nur die beste Defensive aller Ligen Europas, sondern auch die beste Offensive. Natürlich ist Schottlands Fußball qualitativ nicht erste Kategorie, aber es tut sich was im Land: Die Nationalelf hat sich erstmals seit 1996 für eine EM qualifiziert, zudem wird wohl in der Liga die zuletzt neun Jahre währende Dominanz von Celtic gebrochen. Seit 1985 machen der katholisch geprägte Traditionsklub Celtic und die eher protestantischen Rangers den Titel unter sich aus. Aktuell sind viele Beobachter - außer denen, die es mit Celtic halten - über ein wenig Abwechslung froh.
Gerrard predigt als Trainer, was er in Liverpool von Größen wie Houllier oder Benitez lernte
Gerrard bezeichnet sein Wirken gerne als "laufenden Prozess". Er ist dabei, vieles umzukrempeln, nachdem die Rangers wegen einer Insolvenz zwischenzeitlich bis in die vierte Liga abgestürzt waren. Schnellstmöglich gelang der Wiederaufstieg, 2016 kämpften sich die "Gers" zurück in die erste Liga.
Gefragt war und ist in erster Linie Aufbauarbeit: "Priorität hat die Mannschaft", sagte Gerrard zum Jahreswechsel im Vereins-TV, "sie muss langfristig auf allen Ebenen konkurrenzfähig sein." Doch ihm gehe es auch um die Ausbildung an der klubeigenen Akademie, betonte er, und um das gesamte Umfeld: Der "Ibrox Park", das ehrwürdige Stadion der Rangers, soll bald modernisiert werden, ebenso setzt sich Gerrard dafür ein, die Kabinen und das Trainingszentrum aufzupeppen.
Er predige eben genau das, sagt Gerrard, was er selbst von großen Liverpool-Trainern wie dem kürzlich verstorbenen Gerard Houllier oder Rafael Benítez gelernt habe: "Einige Trainer verkomplizieren alles", weiß er, "ich sage lieber klar, was ich erwarte." Gerrard fördert mit seiner Autorität das Zusammengehörigkeitsgefühl im Verein. Und mit seiner authentischen Art gelingt es ihm, Ideen umzusetzen. Die Rangers spielen flott nach vorne, vieles entspringt aus einem spielstarken Mittelfeld - wie einst beim Fußballer Gerrard.
Gealterte Internationale wie Torhüter Allan McGregor, 38, oder Steven Davis, 36, bringen Professionalität und Führungsstärke ein, Kapitän James Tavernier ist aktuell der torgefährlichste Abwehrspieler Europas: 15 Treffer und 17 Vorlagen, als Außenverteidiger! Aufstrebende Profis beleben die Offensive, wie Regisseur Ianis Hagi (Sohn der rumänischen Fußball-Ikone Gheorghe Hagi) oder Offensivflitzer Ryan Kent, den Gerrard noch aus Liverpool kennt. Und damit die Künstler vorne ihren Spaß haben können, passt hinten auch ein alter Bekannter aus der Bundesliga auf: Leon Balogun, 32, gebürtiger Berliner, einst unter anderem in Bremen, Düsseldorf und Mainz aktiv.
Natürlich pusht Gerrard mit dem aktuellen Erfolg auch seine eigene Trainerkarriere. Sein Vertrag in Glasgow läuft bis 2024, spätestens dann könnte er mit gestärkter Reputation eine Rückkehr in die Heimat anstreben. Gerrard spricht offen über seine Ambitionen, zuletzt sagte er dem Magazin The Athletic: "Würde ich eines Tages gerne Trainer von Liverpool sein? Ist das ein Traum? Ja, natürlich! Der Klub bedeutet mir alles." Das weiß auch der aktuelle Liverpool-Coach Klopp, mit dem Gerrard in engem Austausch steht: "Ich helfe ihm, wann immer ich kann", ließ Klopp kürzlich beiläufig wissen, "wenn man mich fragt, wer mein Nachfolger sein soll, würde ich sagen: Stevie!" Klopps Vertrag an der Mersey endet übrigens 2024.