SSC Neapel:Sie nennen ihn "Kvaradona"

Lesezeit: 4 min

Khvicha Kvaratskhelia alias "Kvaradona": Wird er Napoli zu alter Glorie führen? (Foto: Dean Mouhtaropoulos/Getty)

Neapel brilliert selbst gegen Teams wie Liverpool mit Offensivfußball. Das liegt vor allem am jungen Spielmacher Khvicha Kvaratskhelia - dem in Neapel aber erst mal Skepsis entgegenschlug.

Von Thomas Hürner

Einen wie Diego Armando Maradona wird es nicht mehr geben, das wissen sie in Neapel, wo die Menschen nichts kommen lassen auf ihren ewigen Fußballmessias. Aber so eine kleine Reinkarnation des Unersetzlichen, Unerreichbaren, mit dem Ball damals so Unwiderstehlichen? Ja, das ist erlaubt, ohne sich deshalb gleich der Blasphemie schuldig zu machen, glauben die Neapolitaner. Die Geschichte ist eben eine raffinierte Regisseurin - und sie hat ihnen "Kvaradona" gesandt, wie der Spielmacher Khvicha Kvaratskhelia nun im neapolitanischen Volksmund genannt wird.

Dieser Spitzname ist einfacher, einerseits. Als Erklärung taugt Pragmatismus aber nicht, weil Pragmatismus bei der Società Sportiva Calcio aus Neapel nun mal keinen Platz hat. Am Fuße des Vesuvs geht es den Menschen um Selbstbehauptung, Sehnsucht, um die Heiligsprechung des Vergangenen. Es geht also immer irgendwie um Maradona.

SZ PlusZum Tod von Diego Maradona
:Die Last, eine Legende zu sein

Diego Maradona war einer der letzten menschlichen Helden, einer, der vor aller Augen zu den Sternen flog und wieder runterfiel. Über die Einsamkeit im Triumph und die Gabe, alle zu beschenken.

Von Javier Cáceres und Holger Gertz

In diesen Tagen werden alte Reminiszenzen noch häufiger ausgegraben als sonst, wofür es Gründe gibt. Napoli steht aktuell an der Tabellenspitze der Serie A und in der Champions League, wo man es in einer kniffligen Gruppe mit dem FC Liverpool, Ajax Amsterdam und den Glasgow Rangers zu tun hat. Das sind aber erst einmal nur Ergebnisse, nackte Zahlen und Fakten. Was die Neapolitaner von neuen Großtaten träumen lässt, ist der "bel gioco", der bezaubernde und berauschende Stil ihrer Mannschaft. Früher, in den goldenen Achtzigern, ging jedweder Zauber von Maradona aus, und zwar von ihm allein. Das war einmalig, da machen sich die Tifosi nichts vor. Nur: Dass dieser Khvicha Kvaratskhelia ein Fußballer von konventionellem Format ist, glaubt in Neapel auch längst niemand mehr.

Im Napoli-Kader hatte es vor der Saison einen immensen Aderlass gegeben

Dabei war der Start kein bisschen glamourös. Kvaratskhelia kam vor der Saison für acht Millionen Euro von Dinamo Batumi, empfangen wurde er in Neapel mit Skepsis: ein gerade mal 21-jähriger Georgier, der zuvor nur für Zwergenvereine im fußballerischen Nirgendwo spielte? Das wirkte im ersten Moment enttäuschend, weil der vergangene Transfersommer zuerst aus einer Reihe an Entbehrungen bestand: Torwart David Ospina, Abwehrchef Kalidou Koulibaly, Mittelfeldregisseur Fabián Ruiz, Offensivmann Lorenzo Insigne - sie alle gingen fort.

Das füllte zwar die Kassen, doch die Nachfolger lösten keine Hochgefühle aus: Für den Sturm wurde etwa Giacomo Raspadori aus Sassuolo verpflichtet, ein solider Angreifer mit Wuseldrang. Für die Abwehr kam der baumlange Südkoreaner Min-jae Kim, auch er eine große Unbekannte. Hatte ja niemand ahnen können, welch Feuerwerk sie nur wenige Wochen später auf den Rasen abbrennen würden. Es machte sich deshalb erst mal defätistische Stimmung unter den Napoli-Fans breit, sie fürchteten, dass nun eine lange Dürreperiode hereinbrechen würde. Und sie hatten keine Scheu, ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen: Napoli-Präsident Aurelio De Laurentiis, ein Filmmogul mit Hang zur Selbstdarstellung, wurde mit Schmähungen und Schimpftiraden überzogen, auch vor seiner Luxusvilla auf der italienischen Felseninsel Capri gab es Proteste.

Aus Sicht der Tifosi ging es nicht darum, De Laurentiis zu einem raschen Umdenken zu bewegen. Sie forderten nicht weniger als den Sturz des Präsidenten, der sich seit 2004 vergeblich daran versucht, das azurblaue Volk mit der ersten Meisterschaft seit Maradona zu beschenken. Es wäre Neapels erst dritter Scudetto überhaupt.

SZ PlusJuventus Turin in der Champions League
:Sogar der Präsident schämt sich

Juve fällt gerade sehr tief, in der nationalen Meisterschaft und in der Champions League. Doch Trainer Massimiliano Allegri ist unantastbar, wohl weil er so viel verdient. Die Chronologie eines langen Abstiegs.

Von Oliver Meiler

Doch De Laurentiis liebt das Rampenlicht, so einer lässt sich nicht einfach aus dem Klub drängen. Und er glaubte an die Suggestivkraft seines Königstransfers, von dem keiner außer ihm ahnte, welch zentrale Rolle dieser einnehmen würde. "Gibt es irgendetwas, was dieser Junge nicht kann?", fragte neulich ein Kommentator im italienischen Fernsehen, er war aufrichtig konsterniert.

Kvaratskhelia beginnt die Spiele auf der linken Außenbahn, doch das ist nicht mehr als eine grobe Handlungsempfehlung: Sein Aktionsradius ist der gesamte Platz, der Rest gründet auf kindlicher, purer Freude am Spiel. Und auf Instinkt: Kvaratskhelia sieht Räume, die andere übersehen, und er bespielt sie in Windeseile mit beiden Füßen, weil er den Ball mit erstaunlichem Drall auf krumme Flugbahnen schicken kann.

"Der komplette Spielmacher" - Kvaratskhelia hat in Italien bereits Eindruck hinterlassen

"Der komplette Spielmacher", urteilte die Gazzetta dello Sport. Dabei sieht Kvaratskhelia mit seinen heruntergezogen Stutzen eher aus wie einer, der jederzeit in Schlampigkeit verfallen könnte. Der Eindruck täuscht: Fünf Treffer in neun Ligaspielen, dazu kommen drei Torbeteiligungen nach der Hälfte der Champions-League-Gruppenphase - Kvaratskhelia ist auch ungemein effizient. Kein Wunder, seit frühen Kindestagen himmelt der Georgier Cristiano Ronaldo an. Anders als sein portugiesisches Vorbild ist Kvaratskhelia aber gerne bereit, andere neben sich glänzen zu lassen, etwas anderes würde ihm Napoli-Trainer Luciano Spalletti auch gar nicht durchgehen lassen. Da ist Spalletti ein Ideologe. Viele wendige Beine, sagte er mal, machten dem Gegner das Leben schwer: "Und am schwersten wird es für ihn, wenn diese Beine zusammenarbeiten, wie in einem Orchester."

Spalletti ist einer der wenigen echten Offensivdenker im defensivorientierten Italien, dem Paradeland des zynischen Ergebnisfußballs. Seiner Karriere fehlt noch der große Titel, doch wo er war, sorgte er stets für einen Kulturwandel: Das Spiel wird von vorne her gedacht, mit Ballbesitz und einem Dauerpressing in jenen Zonen, die den Gegner besonders schmerzen. So kamen in der noch jungen Saison schon Resultate zustande, die sich nicht mal der Fiktionskünstler De Laurentiis hätte ausmalen können: 4:1 gegen Liverpool, vergangene Woche 6:1 in Amsterdam gegen Ajax, den Champions-League-Gegner an diesem Mittwoch. Weder in der Königsklasse noch in der Serie A hat ein Team mehr Treffer erzielt als Napoli.

Was das verheißen mag? Erst mal nichts, das ist sogar den notorischsten Traumtänzern unter den neapolitanischen Fans bewusst. Anderseits: Ein bisschen träumen ist ja wohl erlaubt.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusBayern-Stürmer Thomas Müller
:"Wollen Sie damit sagen, dass ich ein Lauch bin?"

Thomas Müller erklärt, weshalb er sich mittlerweile verstärkt vegan ernährt - und was er vom neuen Offensivstil des FC Bayern hält. Ein Gespräch, in dem es zwangsläufig um die Wurst geht.

Interview von Christof Kneer und Benedikt Warmbrunn

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: