Loretta Claiborne bei den Special Olympics:Marathon, Eiskunstlauf - und mit 69 Tennis

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"Lass dir von niemandem sagen, was du nicht kannst. Zeige ihnen, was du kannst": Loretta Claiborne aus den USA. (Foto: Special Olympics/OH)

Sie ist die prominenteste Athletin bei den Special Olympics in Berlin: Loretta Claiborne geht zum siebten Mal an den Start, diesmal in einer neuen Disziplin. Dabei wurde sie kurz vor den Spielen noch mit einem Ziegelstein angegriffen.

Von Korbinian Eisenberger, Berlin

Der Frau, die schon so viel erlebt und überlebt hat, stand im Juni 2023 das nächste Erlebnis bevor. Sie saß nichtsahnend auf ihrem Sattel und radelte durch York in Pennsylvania. Sie war, wie so oft, auf dem Heimweg, als es passierte. Ein Mann griff die 69 Jahre alte Radfahrerin an, er warf "einen Ziegelstein" nach ihr, wie die Polizei später in ihrem Bericht schrieb. Der Stein flog auf den Kopf der Radfahrerin zu, doch die erkannte ihn aus dem Augenwinkel, duckte sich weg und wich aus. Der Angreifer lief nun auf sie zu und stieß sie vom Rad.

Die Vorbereitung der Athletin Loretta Claiborne auf die Special Olympic World Games in Berlin ist nicht gerade ideal verlaufen. Nach dem Angriff hatte sie Schürfwunden an der Hand, am Ellbogen und am Knie. Eventuell - auch wenn es nicht im Polizeibericht stand - trug der Angreifer dabei schlimmere Verletzungen davon. Claiborne überwältigte ihn jedenfalls, ehe er flüchtete. Tage später stieg sie in Berlin aus dem Flugzeug, die Wunden mit Pflastern abgeklebt, eine Sporttasche in der Hand.

Loretta Claiborne ist eine der ältesten, mit Sicherheit aber die prominenteste Athletin bei den Special Olympics in Berlin, die noch bis Sonntag andauern. Die US-Amerikanerin ist Marathonläuferin und zählt zu den erfolgreichsten in der Geschichte der Weltspiele für Athleten mit geistiger oder mehrfacher Behinderung. 26 Marathons ist sie in ihrem Leben gelaufen. Sechs Goldmedaillen im Laufen und im Bowling bei den Sommer-Weltspielen hat sie gewonnen - und mit einer Silbermedaille im Eiskunstlauf bei den Winter Special Olympics in Nagano 2005 garniert. Inzwischen ist sie 69 Jahre alt - und tritt ein weiteres Mal an. Diesmal in einer neuen Disziplin.

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In Berlin sah man sie nach ihrer Ankunft vor dem Brandenburger Tor stehen und sprechen, viele Augen waren auf sie gerichtet, die Kameras natürlich auch. Immer und immer wieder sagt sie dann Sätze wie diesen: "Lass dir von niemandem sagen, was du nicht kannst. Zeige ihnen, was du kannst." Das ist ihre Botschaft, die sie seit Jahrzehnten nicht ohne Pathos in der Stimme vor teils großem Publikum verbreitet. Kaum jemandem nehmen die Menschen solche Sätze so ab wie ihr. Und das hat Gründe.

Ihre Biografie liest sich wie aus einem Hollywood-Drehbuch, die Amerikaner lieben ja diese Geschichten von unterdrückten Außenseitern, die zum Helden werden. Und Loretta Claiborne hätte es als Kind kaum schwieriger erwischen können. 1953 kam sie als mittleres von sieben Kindern zur Welt, ihre Mutter zog die Familie allein auf, sie lebten in ärmlichen Verhältnissen. Claiborne litt von Geburt an zudem unter einer starken Seh- und einer geistigen Behinderung. Gehen lernte sie erst mit vier Jahren. Aber: Sie lernte zu gehen, und das kam ihr in vielerlei Hinsicht entgegen.

"Mir wurde als Kind häufig gesagt, du gehörst hier nicht hin", hat Claiborne einmal gesagt. Seinerzeit in den USA war es nicht vorgesehen, dass Menschen mit ihren Einschränkungen überhaupt eine Schule besuchten. Ihre Mutter aber nahm das nicht hin und setzte durch, dass Loretta einen Platz bekam.

Erst war die Gewalt ihr Ventil - dann wurde es der Sport

So viele der knapp 7000 Athleten bei diesen Spielen hier in Berlin haben mal mehr, mal weniger Ausgrenzung erfahren, davon ist fast bei jedem auszugehen. Darüber zu sprechen, fällt vielen von ihnen schwer. Claiborne indes berichtet offen von ihren Erlebnissen. Jahrelanges Mobbing, regelmäßige Erniedrigungen. Reagiert habe sie mit Gewalt, auch das erzählt sie. Gewalt, das war ihr einziges Ventil. Bis sie zwölf Jahre alt wurde - und sich ein anderes Ventil erschloss: Sport, und vor allem: Laufen.

Was ihr speziell der Inklusionssport bedeutet, lässt sich anhand eines Youtube-Videos erahnen, das Claibornes Reaktion auf die Einladung zu diesen Weltspielen zeigt: Als sie es erfährt, geht sie in die Knie, erhebt sich wieder, ist den Tränen nahe. Sie faltet die Hände in Richtung Himmel, ruft "Thank you, Jesus!", ehe sie ihre Freude in die Kamera brüllt: "I'm going to Berlin!"

Anders als in Deutschland werden Behindertensportler in den USA bisweilen wie Stars gefeiert, spätestens seit den Special Olympics in Los Angeles 2015. Zu nennen ist etwa der Teamsport-Allrounder Tim Harris, der wegen seiner Erfolge vom damaligen Präsidenten Obama im Weißen Haus empfangen wurde. Claiborne ist eine dieser prominenten Figuren, erst im Frühjahr wurde sie von der Zeitung USA Today als eine der "Women of the Year" ausgezeichnet. Ihre Teilnahme als Sportlerin und "Chief Inspiration Officer", also offizielle Inspirationsverantwortliche, verleiht den Special Olympics eine Form von Glanz, die selbst Weltstars wie Dirk Nowitzki, einer der Ehrengäste bei der Eröffnungsfeier, kaum bieten können - weil er die Szene eben nur als Außenstehender kennt. Claiborne sehen viele hier als eine Mischung aus Anwältin und Chefmotivatorin des Behindertensports.

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In Deutschland hatte der Fußballtorwart Oliver Kahn einst den Satz "Weiter, immer weiter" geprägt. Claiborne sagte solche Sätze schon Jahre vor ihm - und interpretiert es nun einmal mehr auf ihre ganz eigene Weise: Zum Marathonlaufen sei sie inzwischen zu alt, hat sie vor einiger Zeit erklärt. Nicht aber als Athletin für die Special Olympics. Sie widmete sich einer Disziplin, die sie vor Längerem in ihr Repertoire aufgenommen hatte: Tennisspielen.

Vor 13 Jahren lernte Claiborne eine Frau mit tätowiertem Unterarm kennen. "Sei mutig bei dem Versuch" steht bis heute dort. Diese Einstellung überzeugte Claiborne, sowie die Tatsache, dass Deb Gable sich als versierte Tennisspielerin erwies. Seither ist Gable ihr Coach auf dem Weg, mit fast 70 Jahren noch mal eine Medaille bei den Weltspielen zu gewinnen.

Vieles an dieser Frau ist unfassbar, was ja nicht auf jeden Vertreter der Menschheit zutrifft. Auch nicht auf den Mann, der ihr mutmaßlich einen Ziegelstein entgegenschleuderte. Er war offenkundig durchaus fassbar, wie die örtliche Polizei unlängst mitteilte. "Wir wissen immer noch nicht, was ihn provoziert hat", lässt sich die Polizei in einer Pressemitteilung zitieren. Inzwischen wurde gegen den 19-Jährigen Haftbefehl erlassen.

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