Special Olympics:Ein Zupfer zur rechten Zeit

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Wasserschlacht in Berlin-Grünau: Leo Heckel (Mitte) and Adrian Schlüter (rechts) im Wasser des Flusses Dahme in Berlin-Grünau. (Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images)

Die Hamburger Leo Heckel und Adrian Schlüter treten bei den Special Olympic World Games in Berlin als Duo an. Der eine ist geistig behindert - der andere nicht. Über einen versilberten Tag mit Hindernissen.

Von Korbinian Eisenberger, Berlin

In der letzten Kurve machte der Freiwasserschwimmer Leo Heckel das, was er in sämtlichen Kurven zuvor verlässlich erledigt hatte: Er schaufelte seinen rechten Arm ins Gewässer und setzte zur Linksdrehung um die Boje an. Alles wie bisher also, zumindest fast. Denn diese letzte Kurve war diesmal keine Kurve mehr, nun markierte die Boje den Start in die Zielgeraden. Nervöses Zucken am Ufer, wo seine Anhänger ihn, ihren Leo, zum dritten mal mit Sprechchören empfingen. Verkrault der sich jetzt?

Die deutschen Fans der Freiwasserschwimmer erlebten diesen Schreckmoment am dritten Tag der Special Olympics in Berlin. Für ein deutsches Duo ging es am Montagmittag wenige Meter vor dem Ziel um die Frage, ob sie die Silbermedaille ins Ziel bringen - oder doch noch von ihren Verfolgern überholt werden. Ein falscher Linksschwung, und sie wären wohl zurück auf den Bronzerang gefallen. Doch im Moment des Schwungansatzes zupfte jemand an Heckels Neoprenanzug. Sein Teamkollege Adrian Schlüter war zur Stelle. Und so brachten sie den zweiten Platz nach 1500 Metern über die Ziellinie, mit etwa 100 Zentimetern Vorsprung in 25 Minuten und 33 Sekunden.

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Es war vielleicht die Szene eines Wasserkrimis, der sich am Montagmittag zwischen den Wellen der Regattastrecke auf der Dahme in Berlin-Grünau zutrug. Der eine Teamkollege lotste den anderen im vielleicht wichtigsten Moment seiner bisherigen Sportlerkarriere den Weg. Solche Ereignisse sind bei den Berliner Special Olympics möglich, weil die Veranstalter - wie 2019 in Abu Dhabi- Disziplinen für sogenannte Unified Teams aus geistig behinderten und nicht behinderten Athleten ins Programm genommen haben. Teams wie das Hamburger Duo Heckel/Schlüter also.

Es geht bei diesen Spielen mehr als sonst im internationalen Sport um das olympische Motto. Die Freiwasserschwimmer hinterlassen jedoch deutlich Hinweise, dass allein Dabeisein nicht für jeden von ihnen alles ist. Etwa das mexikanische Unified-Duo Pablo Escalona und Oscar Inowe Perez, die nach anfänglichem Rückstand auf die Hamburger noch in Runde eins vorbeizogen. Ende der zweiten Runde näherten sich die Deutschen zwar an. "Wir hatten sie noch im Blick", erklärte Heckel nach dem Rennen. Dann mussten sie abreißen lassen. "Da haben wir uns dann lieber auf uns selbst fokussiert."

"An den Bojen ist er mir ein paarmal abgehauen."

Vielleicht hilft der kleine Zupfer am Neoprenanzug, um zu verstehen, was Menschen fordern, wenn sie von Inklusion sprechen. Sie meinen: Ein geistig behinderter Schwimmer kann trainieren, um schneller zu schwimmen. Es könnte ihm aber passieren, dass er sich dabei im Weg irrt. Würde man ihn gegen geistig nicht behinderte Athleten ähnlicher Leistungsfähigkeit antreten lassen, hätte er einen Nachteil, was unfair wäre. Also stellt man ihm und Athleten mit einem ähnlichen Handicap einen nicht behinderten Sportler zur Seite.

Tatsächlich erweckte der 23-jährige Leo Heckel im Wasser den Eindruck, dass er die bessere Tagesform hatte, teilweise zog er seinen zwei Jahre jüngeren, nicht behinderten Unified-Partner regelrecht mit, oder wie Schlüter es nach dem Rennen formulierte: "An den Bojen ist er mir ein paarmal abgehauen." Für die Deutschlands Freiwasserschwimmer bei den Special Olympics war es die vierte Medaille des Tages. Elke Jäger wurde in 34 Minuten und 42 Sekunden Dritte in ihrer Leistungsgruppe, die favorisierten Kai-Jürgen Pönisch (28:34) und Patrizia Spaulding (34:34) holten in ihren Einzeln die ersten beiden Goldmedaillen für die deutsche Delegation. Heckel und Schlüter hatten sich auch Gold vorgenommen, bei der Siegerehrung wirkten sie aber nicht enttäuscht über ihre Silbermedaille. Heckel sagte: "Das ist dieser große Moment, auf den ich lange hingearbeitet habe."

Leo Heckel hat eine globale Entwicklungsstörung mit geistiger Behinderung, welche wohl auf einen Sauerstoffmangel bei seiner Geburt zurückgeht. Er arbeitet als Gärtner in einem Förderbetrieb und etablierte sich zuletzt im Schwimmen. Vergangenes Jahr bei den Nationalen Spielen in Berlin holte er mit Schlüter Gold. Da war er aber nicht - wie jetzt - von Fernsehkameras, Richtmikrofonen und Reportern umzingelt. Jetzt sagte er: "Ich kann das alles noch gar nicht so ganz glauben."

In diesen Tagen von Berlin sind die Begriffe "Corona" und "Pandemie" wieder in allen Sprachen und Aussprachen zu vernehmen. Auch bei Heckel ist es ein Thema, das ihn umtreibt. Olympia-Kaderathleten etwa durften während des Corona-Lockdowns mit einer Ausnahmeerlaubnis trainieren. Für ihn und die Sportler seines Eimsbütteler TV blieb die Schwimmhalle geschlossen. Fast ein Jahr konnte er nicht im Wasser trainieren - vor dem wichtigsten Sportereignis seines Lebens. "Ich bin zwar laufen gegangen, aber das ist ein ganz anderes Gefühl", hatte er vor diesen Spielen dem Hamburger Abendblatt erklärt. "Das ist so, als würde man einen Eishockeyspieler fragen, ob er lieber laufen geht oder auf dem Eis Schlittschuh läuft."

Wegen Erfahrungen wie dieser geht Heckel nicht nur als Sportler in diese Spiele, sondern auch als Sprecher der Athleten. Er sagt dann Sätze wie diese: Das Wasser könne er besser spüren als trockenen Grund. Wenn er joggen gehe, spüre er den Boden nur diffus, weil er dabei ja Schuhe trage. Seit längerem diktiert er Reportern große Statements und Forderungen in die Blöcke: Mehr Inklusion, mehr Gleichberechtigung, mehr Aufmerksamkeit in der Politik, mehr Barrierefreiheit in allen Bereichen. Also verkraulen, aber nicht vergraulen lassen.

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