Spaniens EM-Aus:Pedri lässt den Horizont leuchten

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Die Mannschaft von Luis Enrique wurde in der Heimat skeptisch beäugt, nun trennt sie gegen Italien nur das Elfmeterschießen vom Finale. In der Niederlage zeigen die Spanier etwas, was lange vermisst geglaubt war: Grandezza.

Von Javier Cáceres, London

Die Partie im Londoner Wembley-Stadion war kaum vorüber, da konnte man bereits bestens beobachten, dass Spaniens Trainer Luis Enrique sich nicht in tragische Gedanken stürzen würde. Dass er sie, im Gegenteil, metabolisieren würde wie ein Glas Wasser, und dass er das Feld mit sprichwörtlich erhobenem Haupt verlassen würde. Sogar mit einem Lachen auf den Lippen, das er den italienischen Siegern schenkte, die er herzte und umarmte wie Brüder, ehe er in die Kurve ging, in der die spanischen Fans noch immer standen. Er applaudierte ihnen, mit großer Verve und offenkundigem Dank.

Wollte man Körpersprache in Buchstaben übersetzen, so versprühte Luis Enrique exakt das, was er später auch verbal zum Ausdruck bringen sollte: dass seine spanische Auswahl zwar im Elfmeterschießen gegen Italien verloren und damit den Einzug ins EM-Finale verpasst hatte, aber eben doch die Zukunft gewonnen hatte. "Der Sieg ist angenehmer als die Niederlage", sagte Luis Enrique. "Aber dies ist keine traurige Nacht. Es ist eine Nacht, die in mir allenfalls ein gewisses Bedauern auslöst."

Thiago bei Spanien nur in einer Nebenrolle

Es gab keinen Spieler, den Luis Enrique bei seinem Lob hätte aussparen wollte; sogar der frühere Bayern-Profi Thiago Alcántara, der bei dieser EM nur Komparse gewesen war, fand Erwähnung. Wegen der positiven Vibes, die er der Mannschaft intern gegeben habe, obschon er nie in der Startelf gestanden hatte. "Eine '9'" würde er seinem Team gegeben, sagte Luis Enrique, als er nach einem Gesamtzeugnis gefragt wurde; die zweithöchste Schulnote also, und die "10" habe er nur deshalb nicht vergeben wollen, weil seine Auswahl das Finale halt doch verpasst hatte.

Aber sonst? Zu jedem einzelnen Spieler schien ihm eine nuancierte Belobigung einzufallen. Doch nachdem er "die Veteranen wie Busquets, Koke, Thiago..." genannt hatte, hielt er inne und rief eine rhetorische Frage in den Nachthimmel von London: "...aber hat jemand bei dieser EM darauf geachtet, was ein 18-Jähriger chico wie Pedri gemacht hat?"

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Der Mittelfeldmann von den Kanaren, der nach der Partie wie das Kind weinte, das er immer noch ist, brachte am Dienstag mal eben 100 Prozent seiner Pässe zum Mitspieler, und es waren wahrlich nicht bloß horizontale Sicherheitspässe, sondern Interventionen von großem Flair und noch größerer Selbstsicherheit. Gegen Italien. In Wembley.

Eine Turnierleistung wie von Pedri habe er "nicht mal bei Iniesta gesehen, nicht einmal bei Don Andrés Iniesta", rief Luis Enrique in Anspielung auf den noch immer (in Japan) aktiven, spanischen Torschützen aus dem WM-Finale von 2010 unterstrich. Doch selbst dieser Vergleich mit der Barça-Ikone ging dem Coach nicht weit genug: "Das, was Pedri bei dieser EM gezeigt hat, habe ich von noch keinem 18-Jährigen bei einer EM, einer WM oder bei Olympischen Spielen gesehen. Das war jenseits jeder Logik."

Und das konnte man vielleicht nur deshalb nicht als geschichtslos bezeichnen, weil sich Pelés Durchbruch bei der WM 1958 als 17-Jähriger zutrug, als Luis Enrique, 51, nicht einmal geplant war. Sein Enthusiasmus speiste sich nicht nur aus Pedri, sondern auch daraus, dass es andere Hochbegabte ohne Bartwuchs gibt, zum Beispiel den ebenfalls 18-Jährigen Stürmer Ansu Fati vom FC Barcelona, der diesmal wegen einer Verletzung passen musste, und doch berufen ist, den spanischen Sturm auf den prall leuchtenden Horizont anzuführen.

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Womöglich sogar das Manko zu beheben, gegen das die Spanier bei dieser EM von Anfang bis Ende genauso unzureichend ankämpften wie gegen die Zittrigkeit in der Abwehr: Die Schwäche vor dem gegnerischen Tor.

Luis Enrique hatte gegen die Italiener auf einen echten "Neuner" verzichtet - ein längst klassischer modus operandi, wenn es gegen Italiener geht. Die größten ihrer Siege gegen Italien haben sie ohne "echten" Mittelstürmer erzielt, das heißt: Indem sie den Innenverteidigern, diesmal Bonucci und Chiellini, die Bezugspunkte nahmen, und im Mittelfeld Überzahlsituationen schafften.

"Die Spieler haben den Plan perfekt interpretiert", sagte Luis Enrique am Dienstag, in Zahlen: Spanien hatte 65 Prozent Ballbesitz. Die Spanier hätten verhindert, dass seine Mannschaft ihr bevorzugtes Spiel aufziehen konnte, sagte Italiens Coach Roberto Mancini. Gleichwohl: Nach der italienischen Führung durch Federico Chiesa (60.) bedurften die Spanier eines Mittelstürmers, um den Ausgleich zu erzielen.

In der 80. Minute fanden Álvaro Morata und Dani Olmo zueinander, der Leipziger schickte Morata mit dem einzig denkbaren Pass auf die Reise, und wie ebendieser Morata den italienischen Torwart Gianluigi Donnarumma verlud, war von einer Eiseskälte, die Herzen wärmt. Nur ein weiterer Treffer wollte nicht folgen. Die Konsequenz: Ein Elfmeterschießen, in dem ausgerechnet die beiden Komplizen des Tores zu tragischen Helden wurden.

Olmo trat als erster Spanier an (nachdem der Italiener Locatelli gescheitert war), und der Leipziger schoss den Ball in die Wolken. Nachdem Bonucci und Bernadeschi für die Italiener sowie Gerard Moreno und Thiago für die Spanier getroffen hatten, scheiterte dann ausgerechnet der zuletzt so kritisierte Morata, der schon im Spiel gegen Polen einen Strafstoß vergeben hatte.

Jorginho, von dem im ganzen Spiel nichts zu sehen gewesen war außer verzweifelte Versuche, das Wasser aus dem Kahn der Italiener zu schöpfen, um ein Kentern zu verhindern, narrte Unai Simón. Und zwar in solcher Anmut, dass Torwart Simón ihm applaudierte, als der Italiener brasilianischer Herkunft längst jubelte. Abgesehen von dem neuerlichen Beweis, dass die Spanier im Angesicht von Gegnern von historischem Rang wachsen (man denke nur an das 6:0 gegen Deutschland von 2020), stand dieser Applaus stellvertretend für das, was dieses Turnier überdauern wird: die "Grandezza", wie die Italiener sagen würden, im Moment einer denkbar bitteren Niederlage.

"Wie oft habe ich Kinder und Jugendliche gesehen", hob Luis Enrique an, als er im knallroten Pullover hinter einer Werbebande einer Handvoll Radioreportern Rede und Antwort stand, "aber im Sport muss man gewinnen und verlieren können", sagte der in Spanien lange skeptisch beäugte Luis Enrique, der den Italienern den Titel wünschte, als wäre er ihr erster Fan.

"Der Gegner hat gewonnen, und es ist einerlei, ob er das mehr oder weniger verdient hat", sagte Luis Enrique. "Aber man muss den kleinen Kindern beibringen, dass man nicht weinen muss, wenn man verliert, sondern den Rivalen beglückwünschen und es im folgenden Turnier erneut versuchen muss." Der nächste Halt heißt "WM Katar 2022", und es sieht so aus, als wäre mit den Spaniern, die bei der EM 2012 ihren bislang letzten Titel holten, wieder zu rechnen. "Wir haben neun Jahre lang die Wüste durchquert, doch nun sind wir wieder da", sagte Luis Enrique.

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