England vor dem EM-Halbfinale:Der Trainer, dem die Spieler vertrauen

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Unter Gareth Southgate präsentiert sich die englische Nationalmannschaft so geschlossen wie lange nicht mehr. Das enge Verhältnis könnte die "Three Lions" gegen Dänemark zur vorläufigen Krönung führen.

Von Sven Haist, London

Nicht nur für Jordan Henderson schien sein erstes Tor im 62. Länderspiel einen außerordentlichen Wert zu besitzen. Obwohl der finale Treffer zum 4:0 gegen die Ukraine am vergangenen Samstag nur statistische Relevanz hatte, freuten sich alle Spieler und Mitarbeiter mit ihm, als hätten sie soeben selbst ihr Premierentor für die englische Nationalmannschaft erzielt. Insbesondere Ersatzmann Conor Coady, den Trainer Gareth Southgate vorwiegend für den Fall nominierte, dass Abwehrchef Harry Maguire nicht rechtzeitig fit geworden wäre fürs Turnier, sprang am Seitenrand als Erster vor Begeisterung auf - und imitierte in der Luft sogar den Kopfball seines Teamkollegen.

In knapp vier Jahrzehnten war es für England erst der siebte Turniertreffer eines Einwechselspielers nach David Platt (1990), Michael Owen (1998), Steven Gerrard (2006), Theo Walcott (2012) sowie Jamie Vardy und Daniel Sturridge (2016). Eine Runde zuvor gelang Jack Grealish beim 2:0 gegen Deutschland auch erst die vierte Torvorlage eines englischen Reservisten seit 1982 bei einer WM oder EM. Einen ähnlichen Impuls lieferten die Jungstars Bukayo Saka und Jadon Sancho, als ihnen Southgate ihr jeweiliges Turnierdebüt in der Startelf ermöglicht hatte.

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Im deutlichen Kontrast zu seinen Vorgängern hat sich Southgate in seiner viereinhalbjährigen Amtszeit in die angenehme Lage gebracht, über einen Kader zu verfügen, bei dem er kaum mehr eine falsche Personalwahl treffen kann - weil sich jeder Spieler so integriert fühlt in dieses Team, dass er auf Abruf augenscheinlich sofort sein Leistungsvermögen ausschöpfen kann. Dabei hieß es in den zurückliegenden Pleiten-, Pech- und Pannenjahren bei Großereignissen, das Trikot mit den drei Löwen auf der Brust würde schwerer wiegen als die Leibchen anderer Nationen und daher das Potenzial der Spieler einschränken.

Bei der WM 2010 berief der damalige Nationalcoach Fabio Capello zum Beispiel 30 Spieler in seinen provisorischen Kader, weil er sich nicht entscheiden konnte, welche Profis er genau nominieren sollte. Das Training musste deswegen in mehreren Gruppen stattfinden, wodurch die Vorbehalte untereinander nicht mehr auszuräumen waren. Jahre später, bei der EM 2016 in Frankreich, gönnte sich Coach Roy Hodgson mit seinem Assistenten eine luxuriöse Bootsfahrt auf der Seine durch Paris, anstatt sich gleichzeitig im Stadion auf den möglichen nächsten Gegner Island vorzubereiten.

Prompt traf England dann auf Island und blamierte sich im Achtelfinale mit einer 1:2-Niederlage. Ganz zu schweigen von der verpassten EM-Qualifikation 2008, als Steve McClaren das Entscheidungsspiel im strömenden Regen tatenlos unter einem Regenschirm verfolgte, wodurch er als Trottel mit dem Schirm ("The Wally with the Brolly") in die Historie des englischen Fußballs einging.

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Die WM 2002, als er selbst keine Minute spielen durfte, gilt Southgate als Beispiel, wie man es als Trainer nicht machen sollte

Wie schon beim vierten WM-Platz 2018 in Russland, als lediglich die Ersatztorhüter Jack Butland und Nick Pope nicht zum Einsatz kamen, versucht Southgate nun erneut, alle seine Spieler einigermaßen gleich auszulasten. Einzig Tormann Jordan Pickford hat alle fünf Partien komplett bestritten. Neben seinen Stellvertretern Sam Johnstone und Aaron Ramsdale warten bloß noch der nachgerückte Ben White, der Reserveverteidiger Coady sowie der zwischenzeitlich für zehn Tage in Quarantäne befindliche Ben Chilwell auf ihre ersten Spielminuten. Als Leitfaden dient Southgate sein persönliches Erlebnis bei der WM 2002, als er für kein Spiel berücksichtigt wurde.

Seit dem verlorenen WM-Halbfinale vor drei Jahren hat er in jeder der folgenden 35 Partien mindestens eine Startelf-Änderung vorgenommen und seiner Mannschaft damit aufgezeigt, Trainingsleistungen zu honorieren und sich auch nicht zu schade zu sein, seine Spieler unter Berücksichtigung des jeweiligen Gegners auszusuchen.

Sowohl personell als auch taktisch hat Southgate daher die Qual der Wahl vor dem Duell mit Dänemark an diesem Mittwoch (21 Uhr) im heimischen Wembley-Stadion, um einen neuen nationalen Abwehrrekord aufzustellen und erstmals den Einzug ins EM-Finale zu bewerkstelligen - wobei die Einstellung der gegentorlosen 708 Minuten aus dem Weltmeisterjahr 1966 (momentan steht England bei 662 Minuten) die Chance auf den nächsten Heimtitel noch einmal deutlich erhöhen würde.

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In der Teamhierarchie zählen Kapitän Harry Kane, sein Vertreter Henderson, Raheem Sterling und Maguire zum Führungszirkel sowie mit Abstufung die Veteranen aus dem vergangenen Turnier um Pickford, John Stones, Kyle Walker und Kieran Trippier. Die Stärke der Mannschaft, schrieb die Times am Dienstag, liege in ihrer Ausgewogenheit und der Selbstlosigkeit der Spieler, auch wenn jeder natürlich unbedingt spielen möchte. Selbst Henderson hat sich nach auskurierter Verletzung im Mittelfeld klaglos hinter dem Duo Declan Rice und Kalvin Phillips eingereiht, was Fernsehexperte Roy Keane grübeln ließ, ob er lediglich als "Cheerleader" dabei sei. Die Arbeitskultur in der Nationalelf hat sich unter Southgate massiv verbessert, wenngleich ihr Ursprung weit zurückliegt.

Bis heute hat sich kaum ein Spieler über Southgate beklagt - eine Seltenheit angesichts der Boulevardmedien auf der Insel

Als Ausbildungschef begann Southgate bereits im Januar 2011 seine Arbeit in der Football Association, die er zwischenzeitlich nur für ein Jahr als TV-Experte unterbrach, bevor er mit seinem nun langjährigen Assistenten Steve Holland im Sommer 2013 die U-21-Junioren für drei Spielzeiten übernahm. In der ersten Partie hießen die beiden Außenverteidiger zum Beispiel Stones und Luke Shaw, ein gewisser Kane saß damals auf der Bank. Alle drei sind jetzt feste Größen der A-Elf.

In dieser Zeit konnte Southgate die Strukturen der Organisation kennenlernen und auch gleich mit verändern. Auch sein Vertrauensverhältnis zu vielen Spielern baute er sich über seine damalige Tätigkeit auf. Der gewachsene Respekt und die gegenseitige Wertschätzung bilden nun die Basis für seine integre Teamführung. Selbst die ausgesprochenen Sanktionen zuletzt gegenüber einigen Spielern nach teils grobem Fehlverhalten haben die Betroffenen weitgehend klaglos akzeptiert. Bis heute hat sich kaum ein Spieler oder Vertrauter aus dem jeweiligen Umfeld über Southgate beklagt - eine Seltenheit in Anbetracht der stets hellhörigen Boulevardmedien auf der Insel.

Am Telefon gibt Weggefährte Les Reed, 68, der Southgate bereits als Spieler trainiert und als Technischer Direktor des Verbandes lange unterstützt hat, einen Einblick in dessen Wirken bei der Nationalelf: "Gareth weiß genau, was seine Rolle ist, und hat sehr gute Zuarbeiter um ihn herum, denen er in ihren Aufgaben vertraut", sagt Reed. "Mittlerweile hat er alle Tools, um auch einen Spitzenklub zu trainieren, weil er mit Stars umgehen kann. Dieses Paket ist sehr attraktiv, und ich bin mir sicher, dass er sich aussuchen könnte, wohin er gehen möchte. Aber er ist sehr fokussiert darauf, der nächste Trainer zu werden, der mit England die WM gewinnt." Die nächste Chance bietet sich dazu in einem Jahr - aber schon der EM-Titel wäre eine Krönung für seine Arbeit.

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