Spanien bei der EM 2021:"Wir folgen auf eine Generation der Genies, und das ist schwer für uns"

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Das 1:1 gegen Polen könnte am Ende zu wenig für das Weiterkommen sein. (Foto: David Ramos/AFP)

Nach zwei Unentschieden droht Spanien das Aus nach der Vorrunde. Stürmer Morata hadert mit der Vergangenheit, die Kritik an Trainer Luis Enrique ist groß.

Von Javier Cáceres, Sevilla

Zwei Spieltage ist die Europameisterschaft für die Spanier nun alt, und zwei Unentschieden reichten, um bei der Mannschaft von Luis Enrique prononcierte Symptome der Paranoia festzustellen. Zum Beispiel: bei Stürmer Álvaro Morata, der in der 25. Minute zwar ein Tor erzielt hatte, dann aber doch weitere gute Gelegenheiten liegen ließ und daher nach dem Spiel ahnte, dass sie ihn daheim vor den TV-Schirmen genauso schräg angucken würden wie die Zuschauer im Estadio de La Cartuja zu Sevilla.

Der Schlusspfiff lag schon länger zurück, als Morata vor den Reklamestellwänden das Mikrofon des italienischen Senders Sky unters Kinn gehalten wurde. Und er in einer Melange aus Italienisch und Spanisch bloßlegte, wie zerrüttet die Beziehungen der Auswahl von Trainer Luis Enrique zu Fans und Medien sind.

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Was da gesagt werde, erklärte also Morata, sei ihm einerlei, "die warten doch eh nur alle darauf, auf uns einzuprügeln. Normalerweise steht bei solchen Turnieren alle Welt hinter seiner jeweiligen Mannschaft...", raunte Morata und brach die Überlegung ab, ehe er die legendäre Tourismuswerbung aus den Jahren der Franco-Diktatur (1939-1975) zitieren konnte: "Spain is different", lautete sie. Dann aber gab er einen interessanten Einblick in das Seelenleben des Teams. Er deutete an, dass es bemerkenswert unter der Last der Erfolge der Goldenen Generation leide. Die ständigen latenten Vergleiche mit den lebenden Legenden, die zwischen 2008 und 2012 zwei Europameister- und einen Weltmeistertitel abgeräumt hatten, seien ein Problem. "Wir folgen auf eine Generation der Genies, und das ist schwer für uns", erklärte Morata. Seine Mimik verhieß, dass ihn das schmerzt. Denn das Gefühl der weltumspannenden Überlegenheit wohnt den Spaniern noch immer inne. Erst jetzt, allmählich, bricht sich der Gedanke Bahn, dass man bei der WM 2014 nach der Vorrunde und bei der EM 2016 und der WM 2018 jeweils im Achtelfinale ausschied. Ist Spanien vielleicht gar nicht so gut, wie man nicht nur auf der iberischen Halbinsel dachte, als die Mannschaft von Luis Enrique im November das DFB-Team in Sevilla mit 6:0 auseinander nahm?

"Alarmstufe Rot", titelt die Sportzeitung As

Zumindest ist die Sorge um das Fortkommen in der EM latent. "Alarmstufe Rot", titelte die Zeitung As am Sonntag, wogegen sich Marca recht sachlich ausnahm: "Wir haben uns ganz schön in Schwierigkeiten gebracht." Fürwahr: Spanien braucht einen Sieg, um weiterzukommen; ein Unentschieden reicht nur, wenn Polen nicht gegen Schweden gewinnt und Spanien einer der vier besten Gruppendritten wird. Bei einem Unentschieden gegen die Slowakei und einem Sieg von Polen ist Spanien ausgeschieden. Alles auf Sieg also. Nur: Genau das ist ein Problem. In den letzten vier Spielen reichte es zu einem einzigen Sieg - im Testspiel gegen Litauen, das aber die U21 bestreiten musste, wegen der Covid-Quarantäne, die der positive Test von Kapitän Sergio Busquets vor dem Turnier auslöste.

Eine Schlüsselszene: Spaniens Gerard Moreno verschießt einen Elfmeter. (Foto: Cezaro De Luca/dpa)

Wie auch immer: Für Siege braucht man in jedem Fall ein Tor - womit man wieder bei der Debatte um Juve-Stürmer Morata wären, der oft vergessen macht, dass er eigentlich immer schon mit Schrot geschossen hat. Und bei der Debatte um die Abwehr. Sie hatte schon beim Auftaktspiel gegen Schweden trotz 85 Prozent Ballbesitz Schwächen offenbart, am Samstag in Sevilla waren sie wieder zu beobachten. Nicht nur, aber insbesondere beim Ausgleichstreffer durch Robert Lewandowski. So schön dessen Kopfballtor auch war - als Gegenwehr musste man das Verhalten von Innenverteidiger Aymeric Laporte nicht zwingend apostrophieren (54.). Und die Slowaken können die beiden Dinge, die den Spaniern bislang richtig weh getan haben: tief stehen, schnell kontern. Und so wächst in düsterer Vorahnung der Groll.

Im spanischen Verband sollen einige bereits den Daumen über Luis Enrique gesenkt haben. Angeblich. Und anonym

Denn: Die Qualität in der Spanien-Gruppe E ist überschaubar, zudem hatte Spanien Heimrecht. Der nominell beste Gegner steht auf dem 18. Platz der Rangliste des Weltverbandes Fifa. Schweden ist 21., die Slowakei 36., Spanien Sechster. Und so steht Trainer Luis Enriques kurz vorm Autodafé, der Verkündung des Urteils der heiligen Inquisition, in diesem Fall der Presse. Diario de Sevilla riet ihm, vor den eigenen Spiegel zu treten, auf dass er sich selbst zur Sau mache. Die As gellte ihm ein knapperes "So nicht, Luis Enrique!" zu. Gleichzeitig ging das Sportblatt auf Stimmenfang unter den Landesfürsten des spanischen Verbandes. Und siehe: Es sollen sich einige gefunden haben, die den Daumen über Luis Enrique senkten. Aus der Anonymität heraus, versteht sich.

"So nicht, Luis Enrique!" Spaniens Trainer grübelt während der Partie gegen Polen über die richtigen Maßnahmen. Nach Meinung spanischer Medien hat er zuletzt allerdings oft die falschen ergriffen. (Foto: MARCELO DEL POZO/Pool via REUTERS)

Dem Coach werden diverse Vorhaltungen gemacht. Die Covid-Krise wegen Busquets (der gegen die Slowakei wieder zur Verfügung steht) taucht als mildernder Umstand nicht einmal ansatzweise auf. Dafür kratzen sich die Spanier hinterm Ohr, weil Luis Enrique darauf verzichtete, Thiago zumindest einzuwechseln. Dessen ordnende Gedanken hätte man in der zweiten Halbzeit gewiss gebrauchen können. Ein weiteres Detail: Das Spiel beendete Spanien ohne etatmäßigen Stürmer. Wobei kaum jemand verstand, dass Luis Enrique den Stürmer Gerard Moreno auswechselte, er hatte Moratas Tor (25.) vorbereitet und auch sonst eine mehr als nur passable Figur abgegeben. Auf der Debitseite Morenos stand ausschließlich, dass er beim Stand von 1:1 einen Elfmeter verschoss - den er selbst herausgeholt hatte. "Das war der Schlüsselmoment des Spiels", sagte Luis Enrique. Dem Trainer wird zudem angeblich im Verband angekreidet, nichts für ein vernünftiges Verhältnis zu den Medien unternommen zu haben.

Wobei noch erschwerend hinzukommt, dass ihm insbesondere die in Madrid verorteten Sportzeitungen krumm nehmen, dass er keinen einzigen Profi von Real Madrid ins EM-Aufgebot berief. Sergio Ramos hätte den Elfmeter verwandelt, den Moreno vergab, behauptete die Zeitung Marca. Vermutlich aber hätte er sich von Lewandowski nicht so abkochen lassen. Das wäre aber erst noch zu beweisen. "Wir glauben an die Arbeit von Luis Enrique", beteuerte Ersatzkapitän Jordi Alba. Aber es ändert nichts daran, dass schon jetzt feststeht: Der spanischen Nationalmannschaft stehen ungemütliche Tage ins Haus.

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