DFB-Elf bei der EM:Bedürfnis nach einer würdigen Schlusspointe

DFB-Elf bei der EM: Waren wie viele andere schon 2018 im Einsatz: Gündogan und Bundestrainer Löw

Waren wie viele andere schon 2018 im Einsatz: Gündogan und Bundestrainer Löw

(Foto: Matthias Hangst/AP)

Der Verlauf dieser EM weckt Erinnerungen an die WM 2018, sogar viele Protagonisten sind dieselben. Doch die beiden Expeditionen haben wenig miteinander gemein, Deutschland gewöhnt sich vielmehr gerade daran, wieder Favorit zu sein.

Kommentar von Philipp Selldorf

Man braucht keine Pickelhaube auf dem Kopf zu tragen, um an der Expertenmeinung der portugiesischen Fachzeitschrift A Bola Gefallen zu finden. "Die deutschen Panzer zerstören die fragile portugiesische Abwehr", schrieb das Blatt nach dem 4:2, und wenn diese militaristische Analogie auch ein anachronistisches und abgenutztes Stereotyp aufgreift, so stellt sie aus deutscher Sicht doch ein seriöses Kompliment dar. Es würdigt Robustheit, Einsatz- und Feuerkraft und darf auch als Anerkennung technischer Qualitäten verstanden werden. Die Panzer-Metapher ist Ausdruck eines international gültigen Verständnisses hiesiger Fußballkultur, selbst wenn das traditionelle Renommee nicht mehr von Hans-Peter Briegel, Guido Buchwald oder Marko Rehmer repräsentiert wird, sondern von Joshua Kimmich, Ilkay Gündogan oder Kai Havertz.

Bei einem durchaus ähnlichen Anlass vor drei Jahren bemühte das ausländische Feuilleton ein anderes, angeblich urdeutsches Spezialmerkmal. "Deutschland stirbt nie", merkte die spanische Marca bewundernd an; "man darf die Deutschen niemals begraben", stimmte Radio Monte Carlo zu, während AS die ganze Wahrheit des Abends in drei ergreifenden Worten zusammenfasste: "Deutschland ist Deutschland".

In Kasan wurde eine Legende begraben

Damals war Deutschland dem Turniertod schon sehr nah - dann kam Toni Kroos und schoss das Freistoßtor zum 2:1 gegen Schweden. Nach diesem unerhört dramatischen Treffer meinte die ganze Welt zu wissen, wie es jetzt unweigerlich weitergehen würde: Diese unkaputtbaren Deutschen würden ab sofort die Veranstaltung aufmischen, das vorangegangene 0:1 gegen Mexiko sei bloß ein vorübergehender Anflug von menschlicher Fehlbarkeit. Bekanntlich war das ein Irrtum, und Kasan - Schauplatz des Treffens mit Südkorea - wurde zum Ort, an dem die Legende von der unbeugsamen Turniermannschaft begraben wurde.

Aus dem Aufgebot, das damals schmachvoll aus dem ungeliebten Quartier in Watutinki abrückte, sind noch viele Protagonisten übriggeblieben. Zehn von ihnen kamen am Samstag zum Einsatz: Neuer, Hummels, Ginter, Rüdiger, Süle, Kroos, Gündogan, Kimmich, Müller, Goretzka. Selbst der Trainer ist gegen alle global angewandten Fußballsitten immer noch derselbe. Und dennoch kommt es einem gerade so vor, dass die beiden Expeditionen wenig miteinander gemein haben. Damals herrschte Misstrauen im Kader und ein latenter Clash der Generationen, es gab keine Moderation und keine Führung, weder durch den irgendwie geistig entrückten Cheftrainer noch durch erfahrene Vorarbeiter. Jetzt strahlt das DFB-Corps eine interessante Mischung aus Pioniergeist, Ambition und dem Bedürfnis nach einer würdigen Schlusspointe aus. Letzteres verkörpert durch Jogi Löw und die verbliebenen Weltmeister von 2014.

Thomas Müllers warnende Botschaft

Auch diesmal zwar blieben die Deutschen im ersten Spiel unter ihren Möglichkeiten, aber sie waren nicht überheblich, sondern eine Portion zu ehrfürchtig im Angesicht des Weltmeisters Frankreich. Den Rückstand gegen Schweden hat das Deutschland von 2018 unter höchster Kraftanstrengung und seelischen Qualen wettgemacht, während das aktuelle DFB-Modell mit Ronaldos messerstichartigem 0:1 professionell umzugehen wusste.

Wenn nun Thomas Müller nach dem ja unzweifelhaft schön anzuschauenden und außerordentlich erheiternden 4:2 gegen Portugal vor Übermut warnt, dann ist das sicherlich nicht als Hinweis auf das im Kader schwelende Arroganz-Potential zu verstehen. Müller drückt keine Reminiszenz an die Tage von Watutinki aus, sondern die handelsübliche Warnung vor dem Treffen mit einem Außenseiter. Ja, so ist das wohl: Deutschland gewöhnt sich gerade daran, wieder Favorit zu sein, nicht nur gegen Ungarn.

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