Napolis Siegesmühe:An der Schwelle zum Himmel

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Alles ist angerichtet: Die Stadt ist in Azurblau gekleidet, nur der Meistertitel lässt noch auf sich warten. (Foto: Alessandro Garofalo/dpa)

Für die SSC Neapel ist der Meistertitel greifbar, die Stadt erwartet die große Feier. Doch dann Stille. In Neapel müssen sie lernen: Man greift dem Schicksal nicht vor. 

Von Oliver Meiler, Neapel

Es hätte ja so schön sein können, die Apotheose daheim in Neapel. Herbeigebetet, herbeigesehnt, erduldet so lange schon. Neapel hätte am Sonntag italienischer Fußballmeister werden können. Sollen. Müssen. Zum dritten Mal erst in der Geschichte der Società Sportiva Calcio, der SSC. 33 Jahre nach dem zweiten Titel. Und diese Zahl wirkt noch viel runder, wenn sie ausgeschrieben dasteht: dreiunddreißig. Dann entfaltet sie diese historische Schwere, die man der langen Wartezeit natürlich völlig zu Recht zumisst. 33 Jahre. Mehr als eine Generation. Wurde nicht Jesus 33?

Nun werden sie noch ein paar Tage lang ihren Chor vortragen, einen in Zukunftsform. "Vinceremo, vinceremo il tricolor!" Wir werden die Trikolore gewinnen, das Meisterabzeichen in den drei Landesfarben. So tönte es einen Sonntag lang in Neapel, immer wieder angestimmt, am Bahnhof schon, Napoli Centrale, dann den Corso Umberto I. herunter, durch die Via Toledo, die eigentlich alle Via Roma nennen, rüber zur Piazza del Plebiscito, dem Salotto der Stadt, der Bühne jeder Lebensfreude. Alles war bereit.

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Neapel, 30. April 2023, ein Sonntag wie im Thriller. Vorausgegangen war mal wieder das übliche, wunderbare Drama. Das Spiel Napolis gegen Salernitana, kampanisches Derby, hätte eigentlich am Samstag stattfinden sollen. Doch dann wurde es in letzter Minute mal rasch auf den Sonntag verschoben, in den Nachgang zu Inter Mailand gegen Lazio Rom - und zwar vom Innenministerium, wegen Sicherheitsbedenken, eine Staatsangelegenheit.

Angefragt hatte Aurelio De Laurentiis, der Präsident Napolis, der, und auch das sollte nicht verwundern, ein römischer Filmproduzent ist. Einer mit Sinn für Plots, für Spannungsbögen. So richtig einleuchten mochten die Sicherheitsbedenken in diesem Fall nämlich niemandem, die Fernsehsender waren aufgebracht, die anderen Vereine auch. Aber so war es nun mal. "Ein Schritt vom Himmel entfernt", schrieb Il Mattino, die Zeitung der Stadt.

12.30 Uhr, das Spiel in Mailand beginnt. Gewinnt Lazio, kann Napoli noch nicht Meister werden, arithmetisch unmöglich. Nicht an diesem Sonntag, daheim im wohlig benannten Stadio Diego Armando Maradona draußen, in Fuorigrotta, Spielbeginn 15 Uhr. Die ganze Inszenierung, der Tag des Herrn als "Scudetto-Day", sie wäre ein Flop, eine Anti-Klimax. Es würde dann heißen: Sagten wir es doch, man greift dem Schicksal nicht vor.

Ins Stadion passen längst nicht alle - die Straßen in Neapel sind deswegen voll mit Fußballfans. (Foto: Alessandro Garofalo/dpa)

12.56 Uhr. Lazio geht in Führung, und vor der Bar an der Via Chiaia, die einen Großbildschirm vors Lokal gehängt hat, legt sich Stille auf die dichte Schar der Zaungäste - hundert, zweihundert? Plötzlich still. Manche gehen in der Pause rauf zu Donna Sofia für eine "Pizza portafoglio", eine zusammengefaltete Margherita, isst sich leichter beim Gehen. Ein bisschen wenig Salz heute, niemand klagt. Die Menschen tragen azurne Trikots aus allen Epochen, bei den alten blättert der Sponsor ab, ein Mineralwasser. Kinder auf den Schultern ihrer Väter, Letztere deutlich bewegter als Erstere. 33 Jahre! In Neapel erinnert man nun gerne an den Titel eines berühmten Films mit dem immensen, unvergessenen, neapolitanischen Schauspieler Massimo Troisi: "Scusate il ritardo". Entschuldigt die Verspätung.

Wie ein letztes Geleit für Diego Maradona

14.05 Uhr, Inter gleicht aus, die Himmelspforte öffnet sich um einen Spalt. Und vor der Bar an der Via Chiaia kippt die Stimmung in den Erlösungsmodus. Die Tröten sind so laut, dass ein Hund jeden Laut mit seinem Gebell quittiert. "Poverino", sagt eine Frau. "Der Arme, der weiß wohl nicht mehr, wie ihm geschieht." 14.09 Uhr: Inter dreht das Spiel und geht in Führung. 14.17 Uhr: Inter zieht weg.

Nun steht das Paradies der Neapolitaner weit offen, blendend hell, ein Sieg reicht. Und weil den Neapolitanern nichts lieber ist, als über Juventus Turin zu triumphieren, mehr noch als über Inter, Milan, Lazio und Roma, weil sich da die große Geschichte und die große Politik zu einem Gemenge mischen, das durchaus mal wieder einer längeren Betrachtung bedürfte, intonieren sie nun: "Chi non salta, juventino è!" Wer nicht springt, ist Juventino. Ein paar holländische Touristen bleiben wie angewurzelt stehen. Plötzlich sieht man T-Shirts mit dem Aufdruck: "Campioni d'Italia". Die trugen sie wohl bis jetzt unter dem Trikot.

Helden, Schurken, Genies - und Maradona, König von Neapel: alle in einem SZ-Band vereint. (Foto: Gregorio Borgia/dpa)

15 Uhr, es ist Spielbeginn im Stadio Maradona. Diego Armando Maradona ist da, er ist überall: sein Name, sein Konterfei, das "D10S", alle Chiffren und Reminiszenzen an den Pibe de Oro auf den billigen Fahnen, den Leibchen, den Banderolen. Als wäre das, was da gerade zu passieren scheint, auch als sein letztes Geleit gedacht. Napoli hat ja nur mit ihm je den Meistertitel gewonnen, 1987 und 1990. Durch ihn, dank ihm. Das Stadion ist das alte von damals, nur etwas renoviert, und es fasst nun mal nur etwas mehr als 50 000 Zuschauer. Alle anderen, Hunderttausende, drehen Runden in der Stadt und unten an der Meerespromenade am Golf. Was für ein Set, und der Vesuv wird von Wolken umspielt. Seit man sich die Fußballspiele aufs Handy streamt, ist auch die "Radiolina" aus der Mode gefallen, das kleine Radiogerät, das die Herren früher ans Ohr pressten beim Flanieren mit der Familie am Sonntagnachmittag.

16.15 Uhr, noch immer ist kein Tor gefallen. Auf den Marmorbänken vor dem Rathaus sagt einer: "Wir treffen nicht mehr, schon lange nicht mehr, wie viele Tore haben wir in den letzten Spielen schon geschossen?" Der Thriller, eine halbe Stunde noch, Angriff um Angriff, die Salernitana blockt alles ab. Man kann jetzt auch einfach die Augen schließen und in die Stadt reinhören, jeder Angriff ein choraler Seufzer aus den Gassen.

16.20 Uhr. Mathias Olivera, linker Außenverteidiger auf Abruf, Uruguayer aus Montevideo, 25 Jahre alt, trifft mit dem Kopf zur Führung. Aber was wäre dieses Finale, wenn es einfach so dahinsegelte zum gescripteten Ende? 16.40 Uhr, Salernitana gleicht aus, ein Tor des Senegalesen Boulaye Dia fast aus dem Nichts. Und wieder wird es ganz still.

Die Piazza del Plebiscito wäre jetzt voll, weil die Freude im Süden nur dann richtig rund ist, wenn sie geteilt wird. Gleich beginnt's zu regnen. Auf Twitter schreibt jemand: "La mano di Dia." Und so ist Maradona und seine mythische Hand Gottes auch im Moment der Ernüchterung dabei, als geistreiche Verballhornung.

Napoli wird schon noch Meister werden, vielleicht schon in den kommenden Tagen, der sechstletzten Spielrunde. Der Vorsprung auf Lazio beträgt jetzt 18 Zähler, Mathematik verkommt nun zusehends zur Formsache. Lassen die Römer am Mittwoch gegen Sassuolo Punkte, ist Neapel Meister, noch bevor es am Donnerstag selbst spielt - im Norden, in Udine. Und selbst wenn Lazio gewinnen sollte, würde den Neapolitanern ein Unentschieden gegen Udinese reichen für den Titel. Mittwoch oder Donnerstag also, so der Himmel lacht. Ist halt nicht Sonntag, nicht daheim. Scusate il ritardo.

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