Die ultimative Entscheidung stand an, und aus den Lautsprechern des Fußballstadions in Sankt Petersburg ertönte der Ruf einer Punkband der 1970er Jahre. "London calling", eine der berühmtesten Lieder von The Clash. Das Elfmeterschießen im Viertelfinale der EM begann, denn am Ende von 120 Minuten hatte es 1:1 gestanden. Die Schweizer hatten das Unentschieden über die Zeit gerettet, von der 77. Minute an sogar zu zehnt, wegen der roten Karte für Remo Freuler. Der Erfolg war vor allem Torwart Yann Sommer zu verdanken, der teilweise brillante Paraden zeigte.
Doch anders als im Achtelfinale gegen Weltmeister Frankreich scheiterten diesmal die Schweizer am Elfmeterpunkt. Fabian Schär und der starke Dortmunder Verteidiger Manuel Akanji fanden in Spaniens Torwart Unai Simón ihren Meister, der Augsburger Ruben Vargas jagte den Ball auf die Tribüne. Bei den Spaniern brachten Kapitän Sergio Busquets und Rodri den Ball nicht unter. Und das hieß: Die Spanier durften dem Ruf in die britische Hauptstadt folgen, wo am Dienstag das erste Halbfinale stattfinden wird.
Der Suspense der Verlängerung und des Elfmeterschießens entschädigte für das weitgehend fade Spiel, das die beiden Mannschaften in den ersten 90 Minuten geboten hatten. Und es war der Gladbacher Keeper Yann Sommer, der der eigentliche Held des Tages hätte werden können. "Er hat ein Riesenspiel gemacht", sagte sein spanischer Torwartkollege Unai Simón.
Nachdem die Spanier in den ersten 90 Minuten nur zwei Schüsse auf das Tor zuwege gebracht hatten, prüften sie Sommer ein ums andere Mal. Nur: Es langte eben nur zum Shootout. Und nicht weiter. Der Sieg bei der WM 2010 bleibt der einzige der Schweizer gegen die Spanier, die bei dieser EM weiter Rätsel aufgeben. Sie haben alles dabei: Chancen ohne Tore, Tore ohne Chancen, skurrile Eigentore, Dramen vom Elfmeterpunkt - und eine Qualifikation per Elfmeterschießen. "Es war ungerecht, dass wir überhaupt ins Elfmeterschießen mussten", sagte Simón, "wir hätten eine Reihe Tore schießen können."
Zakaria erzielt ein unglückliches Eigentor
Der fade Charakter der ersten 90 Minuten erklärte sich daraus, dass die Spanier spielten, als würden sie keine Dringlichkeit verspüren. Die Schweizer versuchten, jede Ambition zu verbergen, um bei schnellen Gegenstößen zu überraschen. Aber sie mussten früh Rückschläge hinnehmen. Zuvorderst das spanische Führungstor nach acht Minuten, das ein Unfall war. Spaniens Mittelfeldspieler Koke schlug von rechts eine Ecke in den Strafraum; alle verpassten, so dass plötzlich Linksverteidiger Jordi Alba volley aus gut 20 Metern abzog. Ohne innere Überzeugung, eher nach dem Motto: Mal schauen, was dabei herauskommt. Und siehe, der Mönchengladbacher Denis Zakaria schlug nach dem Ball und erwischte ihn so unglücklich, dass er unerreichbar für Torwart Sommer einschlug. Es war das zehnte Eigentor der laufenden Europameisterschaft.
Dass Zakaria überhaupt in der Startelf stand, war dem Umstand geschuldet, dass den Schweizern der vielleicht wichtigste Spieler überhaupt fehlte. Kapitän Granit Xhaka, ehedem ebenfalls ein Gladbach und derzeit beim FC Arsenal in London unter Vertrag. Der gesperrte Xhaka fehlte vor allem als Faktor, um der Partie wenigsten einen Anstrich von Emotion, von Aufholjagd zu geben. Rund um die 20. Minute musste ein weiterer Schweizer mit Gladbacher Hintergrund, Stürmer Breel Embolo, mit einer Muskelverletzung vom Platz. Für ihn kam Vargas, der später der tragische Held werden sollten. Und auch er konnte den lange steril wirkenden Ballbesitzfußball der Spanier nicht unterbrechen.
Dass die Spanier den Ball und damit die Schweizer laufen ließen, hatte seinen strategischen Sinn. Das Ziel: Die Schweizer zu ermüden, denn sie hatten im Laufe dieses Turniers mal eben 13 326 Flugkilometer abgerissen - fast drei Mal so viel wie die Spanier. Erst nach der Pause entwickelten die Schweizer etwas mehr Drang, kamen aber nur über Standards zu Chancen. Doch das Gefühl, sie bräuchten Feindeshilfe um auszugleichen, wollte nicht weichen. Sie erhielten sie, in der 68. Minute: Innenverteidiger Aymeric Laporte fing eine Hereingabe von Remo Freuler ab, doch der Ball prallte gegen die Hüfte von Innenverteidigerkollege Eric García und von dort vor die Füße von Shaqiri. Und dieser ließ sich die Chance nicht entgehen.
Auch eine Unterzahl stoppt die Schweiz nicht
Danach schienen die Spanier sich den Schlaf aus den Augen gerieben zu haben. Ab der 77. Minute spielten sie dann nur noch gegen zehn Schweizer. Denn der englische Schiedsrichter stellte Freuler vom Platz, nach einer rüden Attacke auf die Knöchel des eingewechselten Stürmers Gerard Moreno. Das war eine harte, aber gerade noch vertretbare Entscheidung; die Attacke galt dem Ball, mit seinem gestreckten Bein nahm er aber eine Verletzung seines Gegenspielers billigend in Kauf. Aber zwingende Chancen erarbeiteten sich die Spanier danach nicht, es mangelte an Klarsichtigkeit und Fantasie; die stabile Schweizer Defensive besorgte den Rest.
Gerard Moreno versuchte es aus 17 Metern, doch sein Abschluss geriet zu zentral und stellte für Sommer keine Gefahr dar. Dafür bekam er dann in der Verlängerung heiße Hände: Er vereitelte beste Chancen, ob von Moreno, Oyarzabal, Diego Llorente, Olmo, Sergio Busquets. Doch just, als man meinte, dass das Schweizer Sommer-Märchen weitergehen würde, dass sein gelbes Trikot ein Superhelden-Kostüm war, kam das Elfmeterschießen, die Tragik von Schär, Akanji und Vargas. Held wurde der spanische Torwart, Unai Simón. Denn er trug in der Heimat des berühmten Torhüters Lew Jaschin schwarz. Die Farbe der legendären "Schwarzen Spinne".