Rugby-WM:Die Wucht der Springboks

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Schwergewichtskampf: Südafrikas Handre Pollard entwindet sich dem Zugriff von Englands Manu Tuilagi; kurz vor Schluss verwandelt er den entscheidenden Strafkick. (Foto: David Rogers/Getty)

Südafrika zieht gegen aufopferungsvoll kämpfende Engländer ins Finale der Rugby-WM gegen Neuseeland ein. Erneut zeigt der Titelverteidiger, dass er sich ein einzigartiges Gefühl der Siegesgewissheit erarbeitet hat.

Von Felix Haselsteiner, München/Paris

Drei Minuten reichten Südafrika aus, um dem Gegner aus England seine eigenen Waffen vorzuführen. Über 77 Minuten hatten die Engländer im Halbfinale der Rugby-WM geführt, hatten ihren knappen Vorsprung eisern verteidigt, mit martialischer Abwehrkraft - und dann, kurz vor Schluss, war das Bollwerk im Zeichen der roten Rose, des stolzen Symbols des englischen Rugbys, doch noch zusammengebrochen. Ein Strafkick brachte Südafrika zweieinhalb Minuten vor Schluss die Führung, die der Titelverteidiger in der Verteidigung über die Zeit rettete zu einem 16:15-Sieg, der den Einzug ins Finale am kommenden Samstag bedeutet.

Dieses Halbfinale im Stade de France von Paris lieferte gute Argumente für die These, dass die Südafrikaner, Springboks genannt, derzeit die vielseitigste Mannschaft im Welt-Rugby sind. Nach dem Viertelfinale gegen Frankreich schon hatte man weltweit höchste Töne angestimmt, weil die Südafrikaner gegen die spielstarken Franzosen ein irrsinniges Tempo mitliefen, sich im wilden Katz-und-Maus-Spiel knapp, aber verdient durchsetzten. Mit solchen variabel spielenden, temporeichen Mannschaften umgehen kann Südafrika. Allerdings: Der Gegner im Halbfinale präsentierte sich als völlig anderes Kaliber.

Nicht ein Mal schienen es die Engländer im Verlauf des Halbfinales darauf anzulegen, mit Läufen hinter die Verteidigungslinie zu kommen, so wie die Franzosen. Spielerisch etwas limitiert waren die Engländer, allerdings ausgestattet mit einem recht simplen Plan ihres Trainers Steve Borthwick: Sie sollten eine massive Defensive bilden, keine Punkte kassieren und sich im vorderen Teil des Feldes auf ihren Kapitän Owen Farrell und dessen lange Kicks verlassen.

Vier Jahre dauerte das Tief der Engländer - nun beweisen sie wieder Weltklasse

Fast schon brillant wirkte diese simple Taktik über weite Strecken des engen, unansehnlichen Spiels; es wurde aber zur gelungenen Antwort auf das WM-Finale 2019, als Südafrika die Engländer deutlich geschlagen hatte. Damals hatten die Springboks die klarere Taktik gehabt, mit der sie Englands stolzes Rugby-Team in die vielleicht tiefste Krise seiner Geschichte stürzten. Vier Jahre lang mussten die Engländer eine Niederlage nach der anderen gegen die großen Nationen einstecken, kurz vor der WM auch noch gegen Fiji. Auf der Insel hagelte es lautstarke Kritik an der Mannschaft, die im Dezember 2022 erst auf spektakuläre Weise von ihrem australischen Chefcoach Eddie Jones (der zurück nach Australien wechselte) verlassen worden war und entsprechend am Boden lag.

Das bleibt als zweite Lehre aus dem Halbfinale: England hat sich wieder zurückgearbeitet in die Weltelite durch eine hervorragende Turnierleistung. Die Gruppenphase ohne Niederlage und das 30:24 im Viertelfinale gegen Fiji galten bereits als Beweis für diese These, nun aber folgte vor allem ein heroisches Duell mit Südafrika. "Wie jeder weiß, ist nicht alles so gelaufen, wie wir es uns vorgestellt haben, wir wurden mit allem konfrontiert", sagte Kapitän Farrell nach dem Halbfinale. Eine "Achterbahnfahrt" seien die vergangenen Jahre gewesen, mit einem guten Ende - wenngleich sich die Engländer drei Minuten vor Schluss schon der Chance nahe sahen, noch größer zurückzukommen.

"Ich bin froh, dass wir so weit gekommen sind, aber ich bin auch enttäuscht, dass wir nächste Woche nicht das große Los ziehen können", sagte Farrell: "Ich bin mächtig stolz auf diese Gruppe, und ich hoffe, dass alle zu Hause das auch sind." Das war der Fall, überschattet wurden die vielen positiven Schlagzeilen nur von einem "Racism Row", wie es The Sun nannte: Englands Tom Curry beschuldigte bereits auf dem Feld gegenüber dem Schiedsrichter den südafrikanischen Hooker Bongi Mbonambi, dass der ihn "white cunt" nannte. 36 Stunden hat der Rugby-Weltverband nun Gelegenheit, die Sache aufzuarbeiten und möglicherweise Sperren zu verhängen, sollte England Beschwerde einlegen.

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Das Fehlen von Mbonambi wäre schmerzhaft für die Springboks um ihren charismatischen Kapitän Siya Kolisi, die am kommenden Samstag nicht nur um die Titelverteidigung, sondern gegen Neuseeland auch um eine historische Bestmarke spielen: Südafrika und Neuseeland stehen bei jeweils drei WM-Titeln, eines der beiden Länder wird die Führung übernehmen in der prestigeträchtigen Liste.

Taktische Überlegungen werden wieder eine Rolle spielen: etwa jene um den "Bomb squad", das bei der WM 2019 vom damaligen Trainer Rassie Erasmus "Bombengeschwader" getaufte Paket aus sechs sehr physischen, südafrikanischen Einwechselspielern, die enge Partien noch einmal drehen können.

Genau das gelang gegen England in einem Spiel, das den Südafrikanern noch mehr Selbstbewusstsein gegeben haben dürfte, weil es nicht nur darum ging, taktische Lösungen zu finden - sondern kurz vor Schluss überhaupt noch an den Sieg zu glauben. Trainer Jaques Nienaber, sonst kein Freund überschwänglichen Lobes, beschrieb das Gefühl der Unbesiegbarkeit, das im Rugby einst nur die neuseeländischen All Blacks für sich reklamieren konnten, das derzeit aber bei den "Boks" vorherrscht: "Wir haben 70 Minuten gebraucht, um das Spiel in den Griff zu bekommen, die Mannschaft hat sich geweigert aufzugeben und bis zum Schluss gekämpft. Darauf bin ich sehr stolz." Springboks gegen All Blacks, das wird ein würdiges Finale.

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