Marco Odermatt bei Olympia:Frühe Krönung eines Frühbegabten

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Lässt das, was schwer ist, leicht aussehen: der Schweizer Skirennfahrer Marco Odermatt. (Foto: Alessandro Trovati/AP)

Er könne alles gewinnen, wurde Marco Odermatt prophezeit: Nun wird der Schweizer im Alter von 24 Jahren Olympiasieger im Riesenslalom, weil er so fährt, wie er ist: frech, gewitzt, ohne Angst vor Fehlern.

Von Johannes Knuth

Ein Gedanke, der einem immer wieder in den Kopf schießt, wenn man dem Skirennfahrer Marco Odermatt zuschaut: Das kann nicht gut gehen. Schon gar nicht kann es fürs Podest reichen, hat Andreas Sander neulich erst erzählt, der WM-Zweite aus Deutschland in der Abfahrt. Odermatt driftet gerne mal von der Idealspur, rudert mit den Armen, dem Oberkörper. Und dann, sagt Sander, "rettet er sich irgendwie, weil er es auch technisch draufhat". Weil Odermatt die Skier immer so in den Schnee presst, dass sie ihn flott bergab ziehen, selbst wenn alles verloren zu sein scheint.

Am Sonntag, im olympischen Riesenslalom in Yanqing, schneite es, wie es lange nicht geschneit hat in einer Region, in der sich selten eine Flocke auf die braunen Berge legt. Das Rennen war fast vorbei, die Hälfte der Starter hatte es aus dem Kurs geworfen, die deutsche Hoffnung Alexander Schmid schon nach 20 Sekunden. Das Geläuf erinnerte an eine schwer zumutbare Buckelpiste. Nur Odermatt stand jetzt noch am Start, fünf Stunden, nachdem er im ersten Lauf die Bestzeit an sich gerissen hatte. "Ich hatte so viel Zeit, alles zu überdenken", sagte er später. Er wählte sogar ein neues Skimodell, eine neue Bindung, weil sich die Bedingungen so sehr veränderten. Und dann fuhr er los, der Vorsprung schmolz, der Slowene Zan Kranjec hatte ihm eine Zauberfahrt vorgelegt. Das konnte nicht gut gehen, und am Ende tat es das doch.

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Es gibt nicht allzu viele Skirennfahrer, selbst in der skiverrückten Schweiz, die das Potenzial mit sich führen, große Siege zu sammeln wie andere Autogrammkarten. Die von Plakaten im Land lächeln, die alimentiert werden von österreichischen Brausefirmen, Schweizer Uhrenherstellern und deutschen Autokonzernen. Die schon jetzt "zum Siegfahrer, Posterboy und mutmaßlich am besten vermarkteten Schweizer Schneesportler aufgestiegen" sind, wie die Neue Zürcher Zeitung neulich notierte. Was wird das erst jetzt, da der Skirennfahrer Odermatt sich die goldene Plakette als seine erste olympische Medaille ausgesucht hat, mit 24 Jahren?

Odermatt hat viel unternommen, um vor den Risiken und Nebenwirkungen seiner Branche gefeit zu sein

Die Leichtigkeit, mit der dieser blonde Lockenkopf an die Spitze gestürmt ist, verhüllt manchmal, wie hochseriös seine Karriere aufgezogen wurde. Vater Walter trainierte den Sohn im Skiclub Hergiswil, wo der Senior lange Sportdirektor war. Er fuhr den Sohn zu Rennen, abends präparierte er dessen Skier. Er notiert bis heute, was der Sohn im Training fuhr, jeden Tag, seit Odermatts zweitem Lebensjahr. Er baute sogar eine Art Leistungszentrum rund um den Filius auf, aus dem später andere Profis hervorgingen. Das erzählt schon einiges darüber, was es heutzutage braucht, um junge Skirennfahrer in den Sport zu heben. Es zahlte sich jedenfalls aus: Bei der Junioren-WM 2018 gewann Odermatt fünfmal Gold: Abfahrt, Super-G, Riesenslalom, Slalom, Teamevent. Das hatte noch niemand geschafft.

Und während die Last des frühen Erfolgs schon manchen Juniorenchampion ins Abseits drängte, fuhr Odermatt einfach weiter drauflos.

Er gewann im schwer umkämpften Weltcup bislang zehn Rennen, vier im Super-G, sechs im Riesenslalom, zuletzt vor 12 000 fiebrigen Schweizern in Adelboden. Auch in der Abfahrt wurde er schon Zweiter - in Bormio und auf der Streif in Kitzbühel. Im Gesamtweltcup liegt er schon jetzt so weit vorne, dass er kaum noch zu bezwingen ist, solange er sich nicht verletzt - auch wenn das im Alpinsport oft nur eine Frage der Zeit ist, selbst für die Besten.

Er hat zumindest viel unternommen, um vor den Risiken und Nebenwirkungen seiner Branche gefeit zu sein. Vor zwei Jahren, als die Pandemie gerade anbrach, richtete er sich mit einem Freund eine Kraftkammer in einer Halle für Landwirtschaftsmaschinen ein. Doch während die Konkurrenz mit Privatjets von Privatpisten zu den Wettkämpfen reist, vertraut er noch immer auf die Kraft des Kollektivs. In der Trainingsgruppe des Schweizer Verbandes haben sie sich ja alle in die Weltspitze gezogen: Odermatt, Justin Murisier, Gino Caviezel, Loic Meillard.

Marcel Hirscher hat über Odermatt gesagt, dieser könne alles gewinnen, was er begehre

Was ihn abhebt von den anderen Begabungen: Odermatt fährt so, wie er ist: frech, gewitzt, ohne Angst vor Fehlern. Er habe sich immer seine Freiheiten jenseits des Skifahrens bewahrt, hat er einmal erzählt, auf Skitouren mit seinen Jugendfreunden etwa. Selbst im Training ließ ihm der Vater früh den Freiraum, er schickte den Sohn oft zum freien Fahren ins hügelige Gelände - ein Grund, weshalb sich Odermatt oft aus schier unmöglichen Situationen befreit. Und, auch das ein Unikum, er hat kein Problem damit zu sagen, was andere oft nur denken: dass er natürlich viele Siege an sich ziehen wolle, alles andere würde ihm auch niemand abnehmen. Odermatt, hat der Österreicher Marcel Hirscher, die Überfigur a.D., vor ein paar Jahren mal gesagt, könne künftig alles gewinnen, was er begehre.

Und so fuhr er am Sonntag auch: Lieber ausscheiden beim Unterfangen, Gold zu gewinnen, als Vierter werden. "Ich habe in Wahrheit nie davon geträumt", sagte er über den Olympiasieg. "Und jetzt fühlt es sich noch immer wie ein Traum an."

Kann das einfach immer so weiter gut gehen?

Odermatt macht schon noch viele Fehler, sagen die, die ihn kennen, aber es sei eben auch so: Er macht sie nur einmal. Andererseits wäre er nicht die erste Hochbegabung, die irgendwann für ihre Unbekümmertheit bezahlt. Carlo Janka, Odermatts Landsmann, war noch ein Jahr jünger, als er 2010 in Vancouver den olympischen Riesenslalom gewann. Ein Jahr später wurde er am Herzen operiert, litt bald unter Rückenproblemen, gewann bis zu seinem Karriereende zuletzt noch drei Rennen. Es sei "so, so schön", diese Medaille jetzt im Besitz zu führen, sagte Odermatt am Sonntag, als wisse er genau um die Zerbrechlichkeit dieses Moments: "Ich bin froh", sagte er, "dass ich gesund und auf einem guten Weg bin."

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