Deutsche Olympia-Bilanz:Hauptsache, alle gesund

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Mehr Fördergeld als je zuvor - aber so wenige Medaillen wie nie: Der deutsche Spitzensport bekommt in Tokio seine Schwächen aufgezeigt. Ein paar Konsequenzen liegen auf der Hand, aber mit Innovationen wird es schwierig.

Von Claudio Catuogno, Tokio

Die pandemischen Spiele von Tokio kann man nicht nur anhand des Medaillenspiegels bewerten. Wobei: Kann man natürlich schon - dann kommt man am Ende der zweiten Olympia-Woche auf die Zahlen neun, zehn, elf, 16 und 37, und auf das griffige Fazit, dass die deutschen Athleten mit der schlechtesten Bilanz seit der Wiedervereinigung aus Japan heimkehren. 37 Mal stand ein deutscher Sportler oder eine deutsche Sportlerin auf dem Treppchen, zehn von ihnen gewannen Gold, elf Silber, 16 Bronze. Rang neun bedeutet das am Ende im Medaillen-Ranking. Tiefer als auf Rang sechs rangierte das wiedervereinigte Deutschland bisher noch nie.

Doch die pandemischen Spiele machen sogar diejenigen ein bisschen demütig, die ansonsten nicht zur Demut neigen. So wollte Alfons Hörmann, als Präsident des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB) ansonsten ein beflissener Buchhalter des Leistungsbetriebs, in seiner Bilanz etwas anderes herausstellen: dass es auch eine Höchstleistung gewesen sei, "Team D gesund hierher zu bringen, gesund durch die Spiele zu bringen und gesund wieder nach Hause zu bringen".

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Einer aus dem Team, der Radfahrer Simon Geschke, hatte nach seinem positiven Coronatest erst nach Tagen im Quarantänehotel ausgeflogen werden können; die Geschichte ging glimpflich aus. Offen war am Sonntag allerdings, wann Susanne Wiedemann heimreisen kann, die Teilmannschaftsleiterin Moderner Fünfkampf. Sie war (erst nach Hörmanns Pressekonferenz) der zweite deutsche Corona-Fall in Tokio und musste vom Olympischen Dorf in die Quarantäne umziehen.

Man habe den olympischen Geist erkannt, findet Schimmelpfennig - trotz Masken- und Abstandspflichten

Ob es überhaupt richtig war, diese Spiele trotz Pandemie auszurichten - das müssen andere infrage stellen. Für den Sportbetrieb waren die Spiele wichtig. Dirk Schimmelpfennig, der Leistungssport-Vorstand des DOSB, sagte am Samstag, es seien "Spiele für die Athleten" gewesen - was schon deshalb stimmte, weil Publikum ja keins da war. Und nach den vielen Monaten, in denen Teile des Olympiasports in der Corona-Versenkung verschwunden waren, hofft Schimmelpfennig, dass sich von den TV-Übertragungen "nun wieder viele Nachwuchssportler motivieren lassen für ihren Weg".

Der scheidende DOSB-Präsident Alfons Hörmann am Rande der Olympischen Sommerspiele in Tokio. (Foto: Michael Kappeler/dpa)

Schimmelpfennig hat sogar den olympischen Geist gesichtet! Zwar gab es diesmal kein "Deutsches Haus" als Begegnungsstätte. Dafür hätten im Athletendorf umso mehr jene Begegnungen stattgefunden, die Olympia ausmachen. "Da war der olympische Geist", sagte Schimmelpfennig, und trotz Masken- und Abstandspflichten "hat man ihn erkannt".

Dass sich halt nie alle von ihm erfüllen lassen, das war in Tokio wieder ein anderes Thema. So mussten die Deutschen gleich zwei Teammitglieder vorzeitig nach Hause schicken, nach international beachteten Entgleisungen. Wenngleich man die Fälle nicht vergleichen sollte. Der Rad-Sportdirektor Patrick Moster musste wegen einer rassistischen Beleidigung gehen. Kim Raisner, die Bundestrainerin für Modernen Fünfkampf, wählte im Drama um ein verstörtes Springpferd ("Hau drauf, hau richtig drauf") nicht die angemessenen Worte. Irritierend war in beiden Fällen aber auch, wie lange es dauerte, ehe Hörmann die halbwegs richtigen Worte fand.

Die Deutschen können vieles ziemlich passabel, aber fast nirgends sind sie eindeutig die Besten

Wenn all das demnächst aufgearbeitet ist, landet man aber doch wieder beim Medaillenspiegel und bei der Frage, was die zurückgehende Anzahl an Spitzenplatzierungen über das deutsche Sportsystem aussagt.

Vor allem zeigt der Blick in die Zahlen: Die Deutschen können vieles ziemlich passabel, aber - abgesehen vom Dressurreiten - sind sie nirgends eindeutig die Besten. Für Japan steht alleine neun Mal Judo-Gold in der Liste, die Australier gewannen 20 Medaillen im Schwimmen, die Chinesen sieben der acht Goldmedaillen im Wasserspringen. Man weiß im globalen Sportwettrüsten nie genau, welche Methoden hinter welchen Ergebnissen stecken.

Wie weit die Chinesen bereit sind zu gehen, konnte man allerdings an der 14-jährigen Turmspringerin Quan Hongchan bestaunen, die die Jury mehrmals zur Traumnote 10,0 greifen ließ, so roboterhaft perfekt absolvierte sie ihre Sprünge. Ihn sorge "die Brutalität" hinter diesen Erfolgen, sagte Hörmann. Manches muss der deutsche Sport gar nicht mitmachen, selbst wenn die Politik inzwischen so viele Millionen in den Hochleistungsbetrieb steckt wie nie zuvor.

Insgesamt gewannen die Deutschen Medaillen in 16 Sportarten, in Rio waren es noch 19 gewesen. Dass diesmal keine Mannschaftssportart dabei war, gibt einen ersten Hinweis darauf, woran es krankt: Anspruch und Wirklichkeit sind oft nicht im Einklang. Wenn der Trainer Stefan Kuntz bei den Profiklubs nur 18 statt der vorgesehen 22 Fußballer zusammenkratzen kann - dann muss man sich über ein Aus in der Vorrunde nicht wundern.

Und bei den Handballern hatte zwar Bob Hanning, der Vizepräsident des Handball-Bunds, vollmundig das Motto "Gold 2020" ausgegeben. Aber während die Ägypter, gegen die das deutsche Team im Viertelfinale verlor, oder auch Olympiasieger Frankreich schon im Frühsommer an den Automatismen feilten, lief in Deutschland noch die Ligasaison. Dass man Medaillen nicht im Vorbeigehen abgreifen kann, wäre eine erste wichtige Erkenntnis.

In vielen anderen Disziplinen stellt sich die Frage: Hatte die Leistungssportreform, die der DOSB und die Politik 2016 miteinander verabredet hatten, nicht das Gegenteil zum Ziel? Die Worte des damaligen Innen- und Sportministers Thomas de Maizière (CDU) klingen noch nach, wonach Deutschland, gemessen am finanziellen Einsatz, "ein Drittel mehr Medaillen" holen müsste. Schimmelpfennig wollte in Tokio "erste Effekte" der Reform erkannt haben, die "endgültige Umsetzung" werde aber erst 2022 beginnen, sagte er.

Und dann stellte er den Kern des Projekts gleich wieder zur Disposition: Eine detaillierte "Potenzialanalyse" namens POTAS sollte die Sportförderung eigentlich nachvollziehbarer und zielgerichteter machen - sie bindet in den Verbänden aber auf fast absurde Weise Kräfte. Man müsse die Leistungssportsteuerung "dringend entbürokratisieren", sagte Schimmelpfennig nun. So dreht sich der deutsche Sport weiter im Kreis.

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Von Claudio Catuogno

Die Erkenntnis müsste lauten: Standorte stark machen, an denen es funktioniert - und auch mal Knowhow aus dem Ausland holen

Ein Beispiel dafür, wie im Dickicht aus Haupt- und Ehrenamt auch kleine Erfolge oft brüchiger sind, als sie sein müssten, zeigt sich wiederum im Schwimmen. Nach langen Jahren des Wartens auf eine Olympia-Medaille gewannen die Deutschen in Tokio gleich drei, zwei durch Florian Wellbrock, eine durch Sarah Köhler. Eine der Erfolgsgeschichten.

Beide Schwimmer entstammen dem Stützpunkt in Magdeburg, wo der Trainer Bernd Berkhahn zugleich der Teamchef der Schwimm-Nationalmannschaft ist. Der neue, Ende 2020 angetretene Vorstand des Schwimm-Verbands DSV hat es aber bisher nicht für nötig gehalten, in Magdeburg mal konkret nachzufragen, was im Schwimmen nötig ist für internationalen Erfolg. Wichtige Trainerstellen besetzen die vier ehrenamtlichen DSV-Vorständler lieber in Eigenregie neu, und auch über die zentrale Stelle des DSV-Leistungssportdirektors wollen sie demnächst entscheiden. Ein Konzept ist das nicht.

Nicht nur im Schwimmen, aber auch dort, müsste eine Erkenntnis längst lauten: die Standorte stark machen, an denen es funktioniert (so wie die deutsche Leichtathletik das lange verstanden hat) - und für andere auch mal Knowhow aus dem Ausland holen! Aber an dieses Thema trauen sich die Entscheidungsträger oft überhaupt nicht heran. Am Ende muss man mit den Trainern noch Englisch sprechen? Na, das wäre nun wirklich zu viel verlangt!

Der DOSB? Hat da wenig Handhabe. Die Verbände sind ja autonom. Und wenn doch, dann sind Macht und Loyalität in diesem Geschäft oft der wichtigere Antrieb als Innovation und Detailversessenheit. Wie sehr man in der deutschen Sportzentrale mit sich selbst beschäftigt ist, auch das zeigt die Personalie Alfons Hörmann, der nach Kritik an seinem autoritären Führungsstil und einer Untersuchung der DOSB-Ethikkommission im Herbst nicht mehr antreten wird.

Wenn man Hörmann am Samstag in Tokio gefragt hat, welches Thema er einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin am dringlichsten ans Herz legen möchte, um den Stellenwert des Sports zu erhalten - dann schien ihm da keines auf den Nägeln zu brennen. Das werde man dann direkt besprechen, sagte er nur. Es werde eine saubere Übergabe geben. Auch das klang eher nicht so, als sei bis zu den nächsten Spielen, 2024 in Paris, der große deutsche Sport-Aufbruch zu erwarten.

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