Neuseeland vor dem Start der Rugby-WM:Die Götter in Schwarz wanken

Lesezeit: 4 min

Bedrohlicher Formationstanz: Kapitän Sam Cane und die All Blacks werden mit dem Haka, dem maorischen Kriegstanz, am Freitag gegen Frankreich die WM eröffnen. (Foto: Action Plus/Imago)

Auf ihre Rugby-Mannschaft konnten sich die Neuseeländer fast immer verlassen. Doch nach einer historisch hohen Niederlage kurz vor dem WM-Start ist der Zustand der All Blacks schleierhaft. Sind sie noch so gut wie ihr Ruf?

Von Felix Haselsteiner

An Ritualen kann man sich festhalten in schweren Zeiten, gerade wenn man von diesen noch nicht so viele erlebt hat. Sam Cane, Kapitän der neuseeländischen Rugby-Nationalmannschaft, kann sich am Freitagabend also auf etwas verlassen, wenn die Weltmeisterschaft in Frankreich startet: Die ikonischen schwarzen Trikots, der traditionelle maorische Kriegstanz Haka - das alles wird Halt geben.

Die Geschichte der All Blacks, wie die Mannschaft Neuseelands genannt wird, wird bestimmt von Ritualen und mythischen Erzählungen wie der von der Magie des schwarzen Shirts mit der weißen Nummer, das mehr sei als ein Kleidungsstück. Richie McCaw, Canes Vorgänger als Kapitän und zweimaliger Weltmeister, erzählte einmal, dass er vor jedem Spiel sein Gesicht im schwarzen Stoff vergrub und sich bewusst machte, dass es die größte Ehre seines Lebens sei, ihn zu tragen und Neuseeland auf der Weltbühne zu vertreten.

Bilanz der NFL-Premiere in München
:Ein Nutzen von 70 Millionen Euro

Laut einer Analyse gaben die Football-Fans im vergangenen November 333 Euro pro Tag aus. Gut möglich, dass es auch in der kommenden Saison ein Gastspiel in der Stadt gibt.

Von Joachim Mölter

Doch hinter der größten Ehre versteckt sich oft auch die größtmögliche Bürde. Cane war sie ebenso anzumerken wie seinem Trainer Ian Foster auf der Pressekonferenz vor dem Eröffnungsspiel in Paris. Nervosität herrscht im Lager der Mannschaft, die stets als beste der Welt galt, die so gut wie nie verliert, aber eben auch nicht verlieren darf. Insbesondere nicht in den kommenden sieben Wochen bei der WM, bei der die All Blacks viele Fragen beantworten müssen, vor allem eine zentrale: Sind sie noch so gut wie ihr Ruf?

Das 7:35 gegen Südafrika war die höchste Niederlage in der Geschichte der Neuseeländer

Es war ein Beben, das zwei Wochen vor Turnierbeginn durch die Rugby-Welt fuhr, als Neuseeland im englischen Nationalstadion von Twickenham sein letztes Testmatch 7:35 gegen Südafrika verlor. Es war die höchste Niederlage in der Geschichte der Neuseeländer - gegen einen weiteren großen Turnierfavoriten zwar, aber dennoch: Die Unsicherheit ist seitdem spürbar. Ian Foster versuchte zu beschwichtigen. "Zum genau richtigen Zeitpunkt" habe man die Niederlage kassiert, sagte der Trainer. Manche Medien spekulierten gar über eine kalkulierte Niederlage, um taktische Schlüsse der kommenden Gegner zu verhindern - so absurd las sich das Ergebnis.

Eine gewagte These, findet der Autor Peter Bills. "Kein neuseeländisches Team verliert aus taktischen Gründen, erst recht nicht gegen einen Rivalen wie Südafrika", sagt er. Bills verfolgt seit den 1960er-Jahren die All Blacks, hat bei jeder WM seit der ersten Ausgabe 1987 über sie berichtet und sein gesammeltes Wissen in einem Standardwerk zusammengefasst. Sein Buch trägt den Titel "The Jersey" und erzählt nicht nur von Sport, sondern von der Verbindung eines Landes mit einer Mannschaft, die als oberster sportlicher Repräsentant Neuseelands um die Welt reist.

SZ PlusAmerican Football
:Der Super Bowl des Patrick Mahomes

Der Quarterback verhilft den Kansas City Chiefs trotz Verletzung zu einem fulminanten Comeback. Spätestens jetzt ist der 27-Jährige das Gesicht der NFL - was besonders deutsche Football-Fans freuen dürfte.

Von Jürgen Schmieder

"Es ist fast unmöglich, das als Außenstehender zu verstehen", sagt Bills: "Die All Blacks sind eine fast schon manische Passion, die über eine Religion hinausgeht." Eine götterartige Aura umgibt das Team, bei Reisen innerhalb des Landes werden sie von Umstehenden ehrenvoll betrachtet. Es ist kein Gekreische, das die groß gewachsenen, muskulösen Männer dann umgibt, sie sind keine Pop-Band, sondern die am meisten respektierten Vertreter Neuseelands, denen man höflich alles Gute hinterherruft.

Außer sie verlieren.

"Es gibt Geschichten wie die des Trainers John Hart, der 1999 den WM-Titel nicht holte", erzählt Bills. Hart habe umgehend seinen geplanten Urlaub auf Fidschi abgesagt, um sich in Neuseeland den Menschen zu stellen, wurde dann aber von offiziellen Anlässen ausgeladen und war für eine Zeit sozial isoliert: "Seine Frau wurde damals sogar auf der Straße beschimpft, weil ihr Mann keine Trophäe gewonnen hatte." Neuseelands Spieler sind zu Hause eine Art "public property", Gemeinschaftseigentum, schreibt Bills in seinem Buch: Sie gehören den knapp viereinhalb Millionen Neuseeländern, die aus ihrer isolierten Inselposition im Pazifik nicht viel mitbestimmen auf der Welt - außer das Geschehen in den großen Rugby-Tempeln.

Die All Blacks haben sich eine Stärke bewahrt

Die frenetische Unterstützung aus der Ferne wird bis ins Stade de France reichen am Freitagabend (21.15 Uhr, ProSieben Maxx, ran.de), wo sich auch zeigen wird, wer besser mit dem Druck umgehen kann. Die Gastgeber aus Frankreich zählen ebenfalls zu den Turnierfavoriten, es ist nicht übertrieben zu sagen, dass ein Land dort dem möglichen ersten WM-Titel entgegenfiebert, der den Franzosen ebenso noch fehlt wie dem anderen großen Favoriten aus Irland. Mit Südafrika und Neuseeland ergibt sich ein Quartett an Titelanwärtern, die allerdings schon im Viertelfinale aufeinandertreffen könnten - im Rugby werden die WM-Gruppen bereits drei Jahre vor Turnierbeginn ausgelost, was Kritik und kuriose Favoritenhäufungen zur Folge hat.

Sportlich sind alle vier auf einem ähnlich hohen Niveau einzuordnen, in den vergangenen zwei Jahren gab es in Testspielen untereinander für alle Siege und Niederlagen gleichermaßen, allerdings mit einem tristen Jahresverlauf 2022 für Neuseeland, was dazu führte, dass der Vertrag von Trainer Foster nicht verlängert wurde: Nach der WM wird für ihn Schluss sein. Trotz der Debatten über den Zustand der All Blacks sieht Bills eine Stärke bei den Neuseeländern, die unverändert bleibt: "Während Frankreich den Druck erst kennenlernen wird, ist die Sache bei Neuseeland: Sie kennen das, sie haben das alles schon mal erlebt."

Genau diese Erfahrungen sprach auch Kapitän Sam Cane an. "Ein Teil unserer Rolle als Führungsspieler besteht darin, Geschichten zu erzählen und so Erfahrungen weiterzugeben", sagte der 31-Jährige. Es sollte genug geben im 33 Spieler großen Kader: Die erfahrenste Mannschaft in der Geschichte schickt Neuseeland ins Turnier, 1438 Spiele haben sie in Summe bestritten. Bei allen begleiteten sie ihre speziellen Rituale. Dreimal hat Neuseeland so den WM-Titel geholt, genauso oft wie Südafrika. Ein vierter wäre der alleinige Rekord - und historisch, selbst für die göttergleichen All Blacks.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusKimmich in der Nationalmannschaft
:Ein Außenverteidiger, der wie ein Mittelfeldspieler aussieht

Vor den Länderspielen gegen Japan und Frankreich deutet sich ein überraschender Strategiewechsel an: Bundestrainer Hansi Flick plant, Joshua Kimmich wieder nach hinten rechts zu stellen - in einer zentralen Rolle.

Von Christof Kneer

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: